Menschenversuche mit Cäsium–Fleisch

■ In Schweden essen Testpersonen wochenlang radioaktiv hochverseuchtes Rentier–Fleisch / Wissenschaftler wollen die Ungefährlichkeit von Niedrigstrahlung beweisen / Auch Kleinkinder in der Versuchsreihe des Instituts von Umea / Fleisch mit 10.000 Becquerel belastet

Von Manfred Kriener

Berlin (taz) - Schwedische Wissenschaftler im strahlenphysikalischen Institut von Umea unternehmen gezielte Menschenversuche, um die Auswirkungen radioaktiv verseuchter Nahrung zu erforschen. Die Versuchspersonen, zu denen vor allem samische Rentierzüchter und ihre Familien gehören, essen - auf freiwilliger Basis - verseuchtes Rentierfleisch, das nach den rechtlichen Bestimmungen nicht mehr verkehrsfähig ist. Das verabreichte Fleisch ist zum Teil mit mehr als 10.000 Becquerel belastet. Den Samen wurde versichert, daß die Experimente für ihre Gesundheit völlig ungefährlich seien. Der Hamburger Journalist Peter Dammann, der sich zwei Wochen im schwedischen Lappland aufhielt, hat mit Testpersonen und verantwortlichen Wissenschaftlern gesprochen. „Ich nehme an einer Testgruppe teil. Im Januar hatte ich 8.000 Becquerel Cäsium, im Februar waren es schon über 11.000 und jetzt im März habe ich über 18.000 Becquerel Cäsium in meinem Körper. In den letzten Wochen habe ich viermal pro Woche Rentierfleisch mit 10.150 Becquerel Cäsium pro Kilo gegessen.“ Der schwedische Same Lars Svanni, der dies zu Protokoll gibt, ist 50 Jahre alt. Seit Anfang des Jahres gehört er zu einer zehnköpfigen Testgruppe, die unter wissenschaftlicher Kontrolle das verseuchte Rentierfleisch essen, das durch den Tschernobyl–Fallout unverändert hoch belastet ist. Erst nachdem sein Cäsium–Wert auf 38.000 Becquerel angestiegen war, ist Svanni aus Angst vor gesundheitlichen Folgen aus der Testreihe ausgestiegen. Verantwortlich für die Versuche ist Professor Hans Svensson, der das „Projekt Tschernobyl“ leitet. Er war mehrere Wochen durch Lappland gereist, um Testpersonen für seine Experimente zu finden. Inzwischen wurden von seinem Team 218 Messungen an 162 Menschen durchgeführt. Darunter befinden sich auch 20 Kinder und Kleinstkinder. Wie der Radiologe Lennard Olofson beim letzten Samen–Treffen in Kiruna in diesem Monat berichtete, ist bei drei Samen aus der Testgruppe die radioaktive Belastung auf 90.000 Becquerel Cäsium im Körper angewachsen. Fortsetzung auf Seite 6 Auch dieser Rekord ist für die schwedischen Behörden noch kein Grund, einzugreifen. Professor Svenson und sein Assistent Göran Wäckman verteidigen ihre Versuche, die ohne Geheimhaltung laufen, als „völlig ungefährlich“. Svenson: „Das eigentliche Desaster ist, daß die radioaktive Belastung Lapplands durch die Presse hochgespielt wird. Die Leute, die das hochspielen, sind das Desaster. Ein Grenzwert von 10.000 Becquerel für alle Fleischsorten wäre völlig unbedenklich.“ Anfang Mai haben Finnland und Schweden ihren Grenzwert für Rentierfleisch von 300 auf 1.000 bzw. 1.500 Becquerel pro Kilo erhöht. Norwegen hat den Grenzwert endgültig der real vorliegenden Verseuchung angepaßt und auf 6.000 Becquerel/Kilo festgelegt. Für alle anderen Lebensmittel gelten in Norwegen die alten Werte von 300 Bq. Die Ergebnisse der Menschenversuche scheinen für die verantwortlichen Wissenschaftler schon jetzt festzustehen. „Gesundheitsschäden haben wir nicht festgestellt“, erklärte Göran Wäckman, der sich zusammen mit seiner Familie selbst als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt hat, um damit die Unbedenklichkeit der Versuche zu beweisen. Beweisen wollen die Strahlenphysiker in Umea aber vor allem die Unschädlichkeit radioaktiver Niedrigstrahlung. Daß diese Strahlung Langzeitschäden verursacht, daß Krebse oder genetische Schäden erst in 10, 20 oder 30 Jahren auftreten können, wird mit dem „Projekt Tschernobyl“ ignoriert. Ungeachtet aller Risiken freut sich das Forscherteam über die „ungeheuer interessanten Ergebnisse“. „Wir können genau feststellen, wieviel des aufgenommenen Cäsiums im Körper gespeichert wird. Solange wir regelmäßig messen, kann nichts passieren.“ (Wäckman) Daß die Samen auch außerhalb der Testgruppe verseuchtes Rentierfleisch essen, ist unstrittig. Viele Familien sind bei ihren in Jahrhunderten gewachsenen Traditionen geblieben und können sich auch finanziell keine andere Ernährung leisten. Ein Same ißt etwa 200 Kilo Rentierfleisch im Jahr. Trotz dieser ohnehin bestehenden Eßgewohnheiten ist nach seiner Reise für den Journalisten Peter Dammann die Versuchs– Reihe in Umea zynisch und ethisch unvertretbar. Dammann: „Eine Untersuchung von strahlenbelasteten Menschen ist nur dann zu lässig, wenn sie dazu dient, die Strahlenbelastung zu senken. In Umea ist das Gegenteil der Fall. Hier wird nicht vor den Gefahren gewarnt, und zusätzlich wird von den Versuchspersonen eine weitere Cäsiumaufnahme erwartet.“ Die Ureinwohner Schwedens würden so zu einer atomaren Testpopulation gemacht, um den wissenschaftlichen Ehrgeiz der Strahlenphysik zufriedenzustellen.