Anerkennung der „zweiten Verfolgung“

■ Bundestagsinnenausschuß hört die Opfer der bisherigen Wiedergutmachungspraxis / Von Klaus Hartung

Obwohl ursprünglich vor allem geplant, um ein Gesetz über die Entschädigung der bislang als Opfer der Nazi–Diktatur nicht Anerkannten zu verschleppen, wurde das Hearing im Innenausschuß dennoch zu einem Erfolg. Zwölf Stunden lang setzten sich die Abgeordneten mit Experten und Betroffenen auseinander - das Fazit zum Schluß war ziemlich einhellig. Die bisherige Praxis der Wiedergutmachung habe den Charakter einer zweiten Verfolgung gehabt.

„Dieses Hearing ist ein Wunder“ (Frau Hamm–Brücher, FDP), „ein Durchbruch“ (Frau Schmidt, SPD), „eine moralische Forderung“ (Gerster, CDU) - um 9 Uhr abends, nach elf Stunden, konnte sich kaum einer der Anwesenden, vor allem kein Parteienvertreter mehr dem Ereignis entziehen. In der abgeschlossenen Bonner Sphäre wurde aus einem historischen Tatbestand ein politisches Faktum: Es gibt die Diskriminierung der NS–Verfolgten, die „zweite Verfolgung“, es gibt das ungestillte anklagende Elend der Opfer. Es gibt den dringenden „Handlungsbedarf“ (Gerster, CDU; Lüder, FDP). Ein solches Ende, das ein Anfang war, erscheint immerhin überraschend. Schließlich: Die Forderung nach einem Hearing von Betroffenen und Sachverständigen zum Stand der Wiedergutmachung gehörte in der letzten Legislaturperiode zum Zeitplan der Verschleppung. Daß die Sinti und Roma, die Homosexuellen, die „Sozialverfolgten“, die Zwangssterilisierten, die Sklavenarbeiter von der „Wiedergutmachung“ (Bundesentschädigungsgesetz - BEG) diskriminiert und ausgeschlossen worden sind, war als Tatsache längst bekannt. Insbesondere die Sinti und Roma hatten unermüdlich Bundestag und Regierung belagert, und ihre 400 Fälle hatten alle politischen Verantwortlichen in der Hand. Längst bekannt war auch, daß die Opfer am Ende ihres Lebens stehen und neben überschaubaren finanziellen Mitteln vor allem die Geste der Anerkennung einklagen. Tatsächlich konnten die Parteien in der letzten Legislaturperiode ihren Schwur, die Gesetzesinitiativen abschließend zu beraten, brechen, weil sich das Hearing eben nicht organisieren ließ. Unbelastet war das Hearing mitnichten. „Ich hatte Angst vor diesem Tag“, gestand Renate Schmidt am Schluß. Die Vertreter der Verfolgten, die Opfer, fanden zum ersten Mal nach vierzig Jahren in dieser Form vor einem Organ des Bundestages, dem Innenausschuß, Gehör. Mithin: Das Gewicht ihrer Stimme wurde zum ersten Mal parlamentarisch gewogen. Nicht auszudenken, wenn der Tag in aussichtslosen Streit und neuer Demütigung geendet hätte. Ein Grund vorweg, daß es nicht dazu kam: Die Verfolgtengruppen, von den Homosexuellen bis zu den Juden, hatten eine neue Solidarität, eine gemeinsame Sprache gefunden. Dramaturgie Dabei war die dramaturgische Spannung auf Streit angelegt. Oppositionsgutachter und Koalitionsgutachter standen sich hart gegenüber. Die Koalition hatte den Sachverstand des Staates, die Ministerialen, die Amtsmasken aufgeboten: Ministerialrat Otto Gnirs von Baden–Württemberg; Ministerialrat a.D. Richard Hebenstreit, Düsseldorf; H.–J. Kleinen, Wiedergutmachungsreferent, Rheinland–Pfalz; Karl– Heinz Fuchs, BGH. Hinzukamen der „furchtbare Psychiater“ Helmut Ehrhardt, der das Erbgesundheitsgesetz von 1933 (“einwandfreier Text“) verteidigte und der jüdische Anwalt Dr. Schwarz, Spiritus rector der Wiedergutmachungsverfahren und Herausge ber der sechsbändigen Rechtfertigungsschrift des Bundesfinanzministeriums zur Wiedergutmachung. Die Strategie der Koalition war klar: Defensive und Zurückhaltung gegenüber den Betroffenen, Betonung der finanziellen Leistung und Wendung der Kompliziertheit des BEG gegen die plakativen Forderungen der Betroffenen. Darüber hinaus Ausspielen des Verwaltungswissens, um dann im dritten Teil des Hearings, wo es um die Lösung und insbesondere um das Stiftungsmodell für die nicht berücksichtigten Opfer ging, die anstehenden Gesetzesvorschläge der Grünen und der SPD anzugreifen. Ein agressiver Ton wurde vor allem von den FDP–Vertretern Hirsch und Lüder angeschlagen. Hirsch nahm die Tatsache, daß die Verfolgten–Vertreter auf Einladung der Sinti und Roma sich am Tag zuvor getroffen hatten, zum Anlaß, die Sachverständigen schon mal unter den Generalverdacht der Absprache zu setzen. Gegen den Begriff der „zweiten Verfolgung“ formulierte eben derselbe Hirsch gehässig, ob „100 Milliarden Wiedergutmachung denn eine zweite Verfolgung“ genannt werden könne. Dennoch: Die Front der Ministerialen erwies sich brüchig. Fuchs rechtfertigte die finanzielle Leistung der Wiedergutmachung, indem er sie ins Verhältnis zu seinem geringen Anfangsgehalt setzte. Die Kompliziertheit des BEG bestätigten sie selbst als Quelle der Diskriminierung. Daß man Ausschlußtatbestände, z.B. bei Kommunisten „moderat“ (Gnirs) behandelt habe, war keine Rechtfertigung. Die Ministerialen waren oder begaben sich geradezu freiwillig auf die Anklagebank: Der Vorwurf der zweiten Verfolgung „schmerze“, man habe die Arbeit „mit dem Herzen betrieben“ (Hebenstreit) und „Karriereeinbußen“ (Fuchs) für die Wiedergutmachung hingenommen. Am Schluß war das betont optimisti sche Resümee von Antje Vollmer (Grüne), daß Oppositions– und Koalitionsgutachter gar „nicht so sehr auseinandergefallen“ seien, nicht einmal falsch. Von den Gutachtern ragten, auf die Wirkung bezogen, insbesondere der Psychoanalytiker Kaminer, der Psychiater Dörner und der Richter Düx hervor. Kaminer machte klar, daß die Überlebenden um zu überleben, ihre Erfahrungen „abkapseln“ müßten, und immer bedroht seien von psychischer „Dekomposition“ auf Grund des Erlittenen. Nicht Simulation, um Entschädigung zu erlangen, sei der Fall, sondern „Dissimulation“. Wichtig war diese Thematik, weil bei einer schnellen und „unbürokratischen“ Lösung notwendigerweise auf die Prozeduren des Schadensbeweises durch die Opfer verzichtet werden muß. Die „Umkehr der Beweislast“ wurde gefordert durch die Betroffenen und durch Frau Vollmer. Hier setzt normalerweise der Routineverdacht des Amtes ein, daß da „jeder kommen könne“, daß unübersehbare Forderungen gestellt würden. Durch Kaminer und durch die Verfolgtenvertreter gab es zumindest das Argument nicht mehr. Dr. Düx, erfahrener Richter in Wiedergutmachungsfragen wurde zum entscheidenden Sachverständigen für die Geschichte und Praxis des BEG. Er wies nach, daß das BEG nur unvermeidlicher Kompromiß auf Druck der Allierten gewesen sei. Er kannte die schlimme Praxis der wiedergutmachungsämter. CDU und FDP wagten Düx nie als Sachverständigen aufzurufen. Aber ihre Sachverständigen vermieden es vollständig, sich mit ihm anzulegen. Insofern wurden seine Expertisen für alle verbindlich. Bedeutend auch die Rolle des Psychiaters Klaus Dörner, der sich seit Jahrzehnten mit der Euthanasie beschäftigt. Indem er historische Schuld auf sich nahm (“Auf die glorreiche Idee, auch nur mit einem Opfer der Zwangssterilisation zu reden, bin ich erst vor zwei Jahren gekommen“), baute er Brücken, beschämte er und definierte das Hearing vorab als historischen Fortschritt. Er gehöre zu den „potentiellen Tätern“ und deswegen habe man „damals“, in den 50er Jahren, andere als unstrittige Verfolgungstatbestände nicht sehen wollen. Weiterhin: Dörner bestimmte das Hearing als Produkt neuen Wissens über den Faschismus und war bei der Aktualität. Der Nationalsozialismus habe die „Endlösung der sozialen Frage“, die Exekution der „Zwei–Drittel–Gesellschaft“ gewollt; es sei ein Vernichtungskrieg nach innen gewesen. Mithin bedeute die Anerkennung aller NS–Opfer auch einen allgemeinen sozialpolitischen Fortschritt. Er zwang die Versammelten in einen therapeutischen, in einen politischen Heilungsprozeß, und nicht zufällig spielte ihm die Dramaturgie des Tages das Schlußwort zu. Zweite Phase der Verfolgung Das Hearing stand auf der Kippe, als Antje Vollmer es ideologisch zuspitzte. Von Gutachtern und Betroffenen verlangte sie Auskunft, ob die Wiedergutmachung eine zweite Phase der Verfolgung gewesen sei; eine „zweite Phase des mangelnden Widerstands“ - schließlich hätten die Sinti und Roma jahrelang allein kämpfen müssen; „eine zweite Phase des Vergebens von Winkeln“, es sei ja zwischen Homosexuellen, „Asozialen“, Politischen etc. immer weiter getrennt worden. Die Koalition rief nicht nur ihre Gutachter, sondern auch die Vertreter der Kirchen und vor allem Herrn Nachmann, den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden als Gegenzeugen auf. Aber hier war der historische Bruch. Bei allen Bedenken gegen die Formulierung konnte der Vertreter der EKD „den Wahrheitsgehalt“ jener Formel von der zweiten Phase der Verfolgung nicht abstreiten, zumal wenn die Betroffenen davon reden. Werner Nachmanns Intervention war noch bedeutender. Er verhinderte das Ausspielen der Juden gegen die anderen Verfolgten. Er sagte nichts zur „zweiten Phase der Verfolgung“, aber er forderte Dank, daß die Opfer die Wiedergutmachung „angenommen“ hätten. Sie haben „der BRD den Zugang zur Freien Welt verschafft“. Und: „Wir leben im Jahre 1987 und haben gehört, was nicht erledigt ist; tausendfach sind Juden nicht entschädigt worden...Von jüdischer Seite bestehen noch ge nau solche Forderungen wie von anderen Verfolgten.“ Zu diesem Vorstoß gehört das beredte (kaum wahrgenommene) Schweigen von Dr. Schwarz. Er erklärte distanziert, er habe über sein Gutachten hinaus, das hart und wortarm die Wiedergutmachungspraxis rechtfertigt, „nichts zu sagen“. Zu rechtspolitischen Fragen, die ja jetzt anstehen, äußere er sich grundsätzlich nicht: das heißt, er steht als Zeuge der Bundesregierung gegen die anderen Verfolgten nicht zur Verfügung. Die jüdischen Vertreter haben sich zwar am Schluß nicht für eine Entschädigungsstiftung erklärt. Aber ihre Solidarität ermöglichte, daß das Stiftungsmodell als einzig diskussionsfähige Lösung übrigblieb. Auch die Sinti und Roma, die immer wieder, vor allem durch Romani Rose, vehement Diskriminierung, Hinhaltepolitik und gebrochene Versprechen anklagten, votierten ausdrücklich dafür, obwohl sie ihre Hoffnung eher darein setzen, durch eine andere Verwaltung des Härtefonds vom Bundesfinanzminister (20 Millionen) zu ihrem Recht zu kommen (Das Stiftungsmodell wurde zwar kaum konkret diskutiert, die Koalition und die Ministerialen formulierten allgemeine Bedenken vom Verwaltungswissen und dem Gleichheitsgrundsatz her). Eine Konkretisierung zur Umsetzung der Forderungen gab es durch Düx, der einen stark verkürzten Rechtsweg (nur eine Schlichtungsinstanz) forderte. Wichtig war, daß durch das Votum der jüdischen Vertreter die Angst vor dem Geldausgeben (Gnirs bei einer 1.000–DM Renten–Idee: das ist „die Schallgrenze“) argumentativ nicht mehr zum Zuge kam. „Hühnerkäfige“ Vor dem Auftreten der Betroffenen konnte man Bedenken haben: Zu oft und zu oft wirkungslos haben sie in den letzten Jahren ihre Fälle geschildert. Aber: Es war anders. Zwei Stimmen seien stellvertretend geschildert: Frau Klara Nowak, zwangssterilisiert, mit tonloser Stimme, die erst nach vierzig Jahren den Durchbruch zur Öffentlichkeit fand. „Den Makel, der uns angelastet wurde, mußten wir alleine tragen.“ „Scham und Hemmung, weil man uns nicht die Hand gereicht hat.“ Sie, wie viele andere Verfolgte auch, betonte, daß das Geld nur (unverzichtbares) Mittel der öffentlichen Anerkennung sei. Und dann der aus Ungarn stammende Jude Garai vom Auschwitzkomitee. Sein holpriges Deutsch löste sich auf durch die Gnade der Sprache - die Klage und der jiddische Witz einer vernichteten Kultur sprachen. Mit 16 Jahren in Auschwitz, das Wegselektieren seiner Familie, das Verstehen der „Rauchzeichen“ - Garai fing an, seine Qualen mit der deutschen Wiedergutmachungsrechnung (ein Monat KZ = 150 DM, die Hälfte der Entschädigung für U–Haft) zu verrechnen. Sklavenarbeit und „Deutschmark“, Wassersuppe und „Deutschmark“. Plötzlich ist Garai bei der Angst im Jahre 1987. „Ich habe Angst zu schlafen.“ Im Traum kehre nicht nur die Vernichtung wieder, er selbst phantasiere davon, zu vernichten. „Ich lege meine Kinder auf die Schienen und fahre darüber. Ich sehe einen Lastwagen mit Hühnerkäfigen und sehe die jüdischen Hühner - auf dem Weg zum Schlachthof.“ Garai lebt in Israel, als ungarischer Jude hat er keine Entschädigung erhalten. Post skriptum Nach solchen Schilderungen gestanden alle hilflos ihre Betroffenheit, Renate Schmidt schluchzte und konnte nicht mehr fragen. Gerster beschwor hilflos, daß er jetzt „keine Hoffnung erwecken“ dürfe. Die Abgeordneten erklärten sich betroffen - offenbar aber nur bis zur Sitzung des Innenausschusses am folgenden Tag.