Den ganzen Markt

70 Jahre nach der Oktoberrevolution und am Vorabend eines ZK– Plenums in Moskau, auf dem der wirtschaftspolitische Kurs der UdSSR für den Rest des Jahrzehnts (und, so Gorbatschows Versprechen, des Jahrhunderts und Jahrtausends) festgelegt werden soll, machte ein sowjetischer Wirtschaftswissenschaftler just vor dem Plenum des ZK eine aufsehenerregende Entdeckung. Seitdem die Gattung Mensch existiert, so der Gelehrte, habe sie nie ein anderes Kriterium für die Wirtschaftlichkeit gefunden als den Profit. Das von „höchstem Mißtrauen“ zu Gewinnerzielung geprägte Verhältnis der Verantwortlichen der Sowjetökonomie in 60 Jahren Zentralplanwirtschaft in der UdSSR war damit nichts anderes als „eine Art historisches Mißverständnis: ein Tribut an die Ignoranz von Leuten, die dachten, daß Sozialismus die Abwesenheit von Gewinnen und Verlusten“ impliziere. Der dies schreibt ist Nikolai Schmelew, Abteilungsleiter im Institut „USA und Kanada“ der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. In einem langen Diskussionsbeitrag in der Zeitschrift Nowyj Mir (Neue Welt, Heft 6/1987) rechnet er scharf mit der Kommandowirtschaft und dem „Produzenten–Monopol“ in der Sowjetökonomie ab und kritisiert auch eine Reihe von Maßnahmen der gegenwärtigen Wirtschaftsreform als nicht weitgehend genug oder in sich widersprüchlich. Generalsekretär Michail Gorbatschow verriet anläßlich seiner Stimmabgabe bei den Kommunalwahlen am 21.6.87 in einer ad– hoc–Gesprächsrunde den Wählern und Journalisten, daß er das Traktat des Ökonomen Nikolai Schmelew gelesen habe. Mit dessen Analyse des Zustands der Wirtschaft gehe er im großen und ganzen konform. Die Vorschläge des Autors aber, wie der „zum Beispiel, daß auch so etwas wie Arbeitslosigkeit bei uns herrschen sollte, nein, das paßt uns nicht“. Damit sind wir schon mitten in der Streitschrift von Schmelew. Rubel statt Kommando Schmelew plädiert für die Einführung einer Marktwirtschaft in der UdSSR. „Zu lange hat das Kommando anstelle des Rubel unsere Wirtschaft gelenkt.“ Der überzentralisierte Planungs– und Leitungsmechanismus, der „oft in Amtsstuben erdacht“ und „durch ökonomischen Romantizismus, gemischt mit einem gut Teil ökonomischer Inkompetenz sowie durch eine unglaubliche Überschätzung des sogenannten administrativen Organisationsfaktors geprägt“ war, müsse endgültig abgeschafft werden. Sachzwänge des modernen technischen Fortschritts und neue Bedingungen des ökonomischen Wettbewerbs mit dem Kapitalismus hätten die „historische Ungültigkeit“ (Schmelew schreibt nicht „Überlebtheit“) dieses „eigenwilligen“ Wirtschaftsmechanismus bloßgelegt. Nicht dieses System passe zum Sozialismus - wie viele glaubten -, „im Gegenteil, unter normalen Bedingungen ist es ihm fremd“. Der Autor geißelt die Sowjetökonomie als eine von „Knappheit, Ungleichgewichten und Unplanbarkeit“ geprägte Wirtschaft. Mit ihr sei genau das Gegenteil dessen eingetreten, was ihre Initiatoren und Organisatoren eigentlich gewollt hätten. Selbstanpassung, Selbst–Regelung und Selbst–Entwicklung seien heute die Hauptbedingungen für Lebensfähigkeit und Wirtschaftlichkeit komplexer sozialer Systeme. Die Kommandowirtschaft sowjetischen Typs habe „weitverbreitete Apathie und Indifferenz, Diebstahls–Kriminalität, Geringschätzung ehrlicher Arbeit und gleichzeitig aggressiven sozialen Neid auf jene, die viel verdienen - sogar wenn sie es auf rechtschaffenem Wege tun“, hervorgebracht. In der Führungsschicht der Wirtschaft herrschten „Feudalmentalität, Kasten–Arroganz und die Überzeugung der eigenen Unsinkbarkeit“ vor. Gegenwärtige Widersprüche Die gegenwärtige Wirtschaftspolitik kritisiert Schmelew als in sich widersprüchlich. Einerseits habe es in der letzten Zeit eine Reihe von Maßnahmen und Entscheidungen gegeben, die darauf abzielen, die Landflucht zu stoppen. Dazu habe auch die Ermutigung individueller Aktivitäten in der Landwirtschaft (z.B. der privaten Bewirtschaftung von Parzellen durch Familien im Rahmen von Pachtverträgen mit Staats– oder Genossenschaftsbetrieben) gehört. Andererseits aber - die linke Hand weiß nicht, was die rechte tut - gebe es unter dem Banner des Kampfes für soziale Gerechtigkeit seit dem Sommer 1986 Kampagnen „rabiater Linker und Wirrköpfe“ gegen sogenannte unverdiente Einkommen. Diese Kampagnen richteten sich auch gegen das Aufkommen leistungsfähiger kleiner landwirtschaftlicher Anwesen und ziele auf das Niederreißen von Gewächshäusern, Obstgärten und Kälbermastbetrieben in Privatbesitz ab. „Ist es etwa“, so fragt Schmelew, „nach alledem denkbar, daß wir so viel Getreide und Fleisch im Ausland zukaufen aus Furcht davor, daß einige einzelne bei deren Erzeugung im Inland einen Extra–Rubel verdienen könnten? ... Wir müssen ein für alle Male entscheiden, was für uns wichtiger ist: eine reichliche Verfügbarkeit unserer eigenen Produkte oder das Einverständnis mit jenen, die für gleiche Armut für alle eintreten, sowie mit den unverantwortlichen Sprücheklopfern aller Schattierungen.“ Einige seiner Forderungen erinnern an die Wirtschaftstheoretiker des „Prager Frühlings“ 1968, andere an Vorstellungen von Funktionären der polnischen „Solidarität“ 1980/81, wieder andere an Wirtschaftsreformschritte in Ungarn und China. Aber Schmelew ist kein Eklektiker. Er will den Markt, und er will ihn ganz.