„Niemand ist da, der uns schützen könnte“

■ Nach dem Ende der Großoffensive der Armee im Norden Sri Lankas berichtet die taz in einer Reihe von Reportagen über die Lage in dem umkämpften tamilischen Gebiet / Heute Teil 1: Flüchtlinge von der Jaffna–Halbinsel über ihre Erfahrungen mit Guerilla und Armee

Aus Madras Biggi Wolff

Es ist fünf Uhr morgens, als sich die ersten hinduistischen Pilger im berühmten südindischen Tempelstädtchen Rameswaran zum rituellen Bad im Meer einfinden. Brahmanische Priester zelebrieren noch vor Sonnenaufgang religiöse Andachten (“Poojas“) mit Kokosnüssen, Jasminblüten und Räucherkerzen. Vom Ramanathaswamy–Tempel, der das Zentrum der kleinen Stadt bildet, begleitet spirituelle Musik den Besucher bis in den etwas außerhalb des Ortes gelegenen Hafen. Doch die Idylle täuscht: Seit aus Rameswaran vor drei Wochen ein Bootskonvoi mit Hilfsgütern für die tamilische Bevölkerung der Jaffna–Halbinsel, jenseits der 40 km breiten Meerenge Palkstrait nach Sri Lanka geschickt wurde, ist die Atmosphäre nachhaltig gestört: Die 10.000 Fischer von Rameswaran wagen es wegen befürchteter Racheakte der srilankanischen Marine nicht mehr aufs Meer hinauszufahren. Als sie hören, daß ich auf Flüchtlingsboote aus Jaffna warte, versammeln sie sich gleich gesprächsbereit am Pier. „Seit Jahrhunderten besteht eine enge Freundschaft zwischen den Fischern von Rameswaran und Jaffna, wir haben immer zusammengearbeitet und uns bei Problemen geholfen“, erklärt ein etwa 40jähriger Mann. Ob die täglich ankommenden Flüchtlinge - allein in der letzten Woche waren es 2.000 Menschen - die Sympathie der sehr armen Bevölkerung Südindiens nicht arg strapazieren, erkundige ich mich. „Wir sehen doch, was in Jaffna los ist. Jedesmal wenn wir zum Fischen rausfahren, treiben ein oder zwei Leichen im Meer“, ist die Antwort. Und: „Es gibt unter uns nicht einen einzigen, der noch nicht von den Soldaten Sri Lankas geschlagen und beraubt worden ist“, schimpfen sie. „Wir haben aufgehört, die Zwischenfälle zu zählen, aber jedesmal, wenn wir zum Fischen auslaufen, rechnen wir mit dem Tod.“ Allein 60 indische Fischkutter wurden in den letzten vier Jahren durch die Marine versenkt, zahlreiche Fischer getötet oder verkrüppelt. Es sei unmöglich, mitten in der Nacht auf offener See die Grenze zwi schen srilankanischen und indischen Gewässern auszumachen. Die Marine habe sie sogar schon in indischem Territorium angegriffen. „Deswegen“, so faßt ein junger Fischer die Stimmung zusammen, „fordern wir zweierlei: einen separaten Staat für die Sri Lanka–Tamilen und zweitens das Recht, in allen Gewässern dieser Erde fischen zu dürfen.“ Boat People Auf dem Rückweg vom Hafen nehme ich eine Abkürzung durch den großen Tempel, dessen 1.200 Meter lange, mit Steinreliefs aus dem 17.Jahrhundert geschmückten Korridore angenehme Kühle bieten. Tropfnasse Pilger eilen hinter Priestern mit Eimern in der Hand zum nächsten reinigenden Brunnenbad. Seit 1984 der Fährservice nach Sri Lanka gestoppt wurde, verirrt sich kaum noch ein westlicher Tourist in das 18 gerüttelte Busstunden von Madras entfernte Rameswaran. Am Strand in der Nähe des Tempels sitzen vier junge Jaffna– Tamilen und warten auf einen „Lift“ zurück nach Jaffna. Vor acht Monaten hatten sie pro Person 10.000 DM an einen Agenten für Tickets nach Europa bezahlt. Seit drei Monaten ist der Mann spurlos verschwunden. Jetzt wollen die Jungen trotz der drohenden neuen Militäroffensive lieber nach Jaffna zurück als „in Indien zu verhungern“, wie sie sagen. Rameswarans Billigpensionen sind voll mit gestrandeten Tamilen aus Sri Lanka. Am Abend finde ich im Innenhof einer dieser Herbergen etwa 100 Flüchtlinge, die am Tag zuvor mit drei Booten aus Jaffna angekommen sind. Ihren Gesichtern ist die Anspannung und Erschöpfung deutlich anzusehen. „Als wir vor vier Tagen an der Küste von Jaffna aufbrachen, hatten wir schon nach wenigen Stunden einen Motorschaden. Wir alle dachten, daß wir ertrinken müßten, als das Wasser so schnell ins Boot strömte“, berichtet eine 55jährige Frau aus dem Dorf Vadamarachi. „Gott sei Dank kam dann ein zweiter Kutter und schleppte uns auf eine kleine Insel. Dort übernachteten wir in einer Kirche, am nächsten Morgen ging es mit einem anderen Boot weiter.“ 16 Stunden dauerte dann noch die Fahrt über die rauhe See, für eine Strecke, die man normalerweise in sechs Stunden zurücklegen kann. „Als wir losfuhren, waren die Scheinwerfer des Marinestützpunktes auf uns gerichtet, wir mußten den Lichtkegel weit umfahren und hatten furchtbare Angst vor einem Angriff. Alle zwei oder drei Minuten schlugen die Wellen über uns zusammen, meine Arme und Beine wurden vor Nässe und Kälte taub“, erzählt eine der drei erwachsenen Töchter der 55jährigen, die vor sich den jüngsten Bootspassagier, ihren zwei Monate alten Sohn Selvam, wiegt. Auf den zwölf mal vier Meter großen Seelenverkäufern drängen sich pro Überfahrt bis zu 45 Passagiere. „Wenn es in Jaffna so harmlos wäre, wie die Regierung in Colombo der Welt vormachen will, glauben Sie denn, daß wir diese Gefahren auf uns nehmen würden?“ fragt mich die Großmutter von Selvam. „Ich betete während der gesamten Fahrt, daß Gott zumindest das Leben der zehn Kinder an Bord retten möge.“ Tapfere Guerilla - Schutzlose Zivilisten Von draußen werden jetzt große Tröge mit gekochtem Reis und Linsen gebracht, ruhig nehmen die Flüchtlinge ihr erstes, auf Bananenblättern serviertes Abendessen auf indischem Boden zu sich. „Erleichterung, Sicherheit und ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber Indien, das uns so bereitwillig aufnimmt“, habe sie empfunden, als das Boot Rameswaran erreichte, sagt eine pensionierte Lehrerin, die mit ihrem 17jährigen Sohn floh aber ihren Mann wegen beruflicher Verpflichtungen auf Jaffna zurücklassen mußte. Sie zittert am ganzen Leib und entschuldigt sich, daß es ihr schwerfällt, geordnet zu berichten. Alle meine Gespräche mit den Flüchtlingen - es ist kaum zu übersehen - werden sowohl von einem indischen Beamten in Zivil als auch einem Spitzel der militärisch stärksten Guerillagruppe „Liberation Tigers of tamil Eelam“ mitgehört. Um so schwerer wiegt jedes Wort der Kritik, das an der Strategie der „Tigers“ geübt wird. Vom „Fehlen eines Konzeptes gegen die mit menschlichen Schilden vorwärts marschierenden Truppen“ - wie im Osten der Halbinsel gesehen - ist die Rede, von einer „schlechten Organisation des Waffen– und Lebensmittelnachschubs“ und davon, daß die LTTE anscheindend durch die verhängte Ausgangssperre weitgehend aktionsunfähig gemacht worden sei. „In manchen Guerillalagern waren nur zehn Kämpfer, als die Truppen anmarschierten“, sagt ein 36jähriger Bankangestellter. Mit den Worten: „Je größer das Leiden, desto stärker die Entschlossenheit“, hatte mir LTTE– Sprecher Balasingham noch vor zwei Tagen in Madras das Befinden der Zivilbevölkerung geschildert. „Wir wissen, daß alle Kämpfe auf der Welt menschliches Leiden und Leben kosten, aber deshalb können wir trotzdem nicht alle Greueltaten der Armee ertragen“, sagt der Angestellte trotz „Tiger“–Präsenz im Hintergrund ruhig und bestimmt. „Es gibt für alles eine Grenze.“ Seine Frau, eine Grundschullehrerin, fügt hinzu: „Auf der anderen Seite hassen wir die Armee, Jayewardene versucht, uns durch das Gewehr zu kontrollieren.“ Auch die pensionierte Lehrerin meldet sich noch einmal zu Wort: „Die Jungen sind sehr tapfer, sie haben sogar ein Selbstmordkommando, das sich für uns zu opfern bereit ist. Aber das alles ist keine Antwort auf die Luftangriffe. Niemand ist da, der uns schützen könnte.“ Wieviele Menschen denn noch nach Indien ausreisen wollten, erkundige ich mich. „Praktisch jeder, allerdings verhindern die Transportpreise von 1.500 Rupien (150 DM) für einen Erwachsenen und der Mangel an Booten einen Massenexodus“, erklärt der Bankangestellte. Um uns herum haben sich die erschöpften Menschen auf dem Steinfußboden zum Schlafen niedergelegt, am nächsten Tag sollen sie ins 20 km entfernte Auffanglager nach Mandapam verlegt werden. Im indischen Auffanglager Die Insel Rameswaran ist nur durch eine Eisenbahnbrücke mit dem Festland verbunden, an einer Straßenverbindung wird seit Jahren gebaut. Was auf der einen Seite neu hochgezogen wird, bricht am anderen Ende schon wieder zusammen, und so muß sich jeder Reisende für die kurze Strecke nach Mandapam in einen der mit kahlgeschorenen Pilgern überfüllten Züge zwängen, aus deren Fenstern lustig die Handtücher zum Trocknen flattern. Polizisten bewachen den Eingang des Lagers, erst nach längeren Verhandlungen mit dem Lagerleiter erhalte ich die Erlaubnis, mich mit den Neuankömmlingen in einem abgeteilten Areal zu unterhalten, gleichzeitig wird mir Fotografierverbot auferlegt. Auch hier gesellen sich „unauffällig“ LTTE– und indische Spitzel zu uns. Etwa 70 Menschen, die auf zwei Booten vor anderthalb Tagen ein Dorf nördlich von Rameswaran erreichten, liegen bei 40 Grad Hitze apathisch unter schattenspendenden Bäumen, ihre Koffer und Reisetaschen vor sich im Sand. Auffällig die vielen jungen Männer, die in mehreren kleinen Gruppen zusammensitzen. Ob die Guerilla jetzt ihre Rekrutierungsjahrgänge verlöre, wage ich mich an eine der Gruppen heran. „Wir haben die Bewegung verlassen“, gesteht ein etwa 20jähriger Tamile mit erstaunlicher Offenheit ein, „wir können die Widersprüche innerhalb der Bewegung nicht mehr ertragen.“ Nähere Details sind verständlicherweise nicht zu erhalten. Ein 32jähriger Elektriker, der mit Frau und zwei Kindern kam, faßte den Entschluß zur Flucht quasi über Nacht. „Als die Offensive auf Vadamarachi begann, waren am nächsten Morgen plötzlich Soldaten auf den Straßen unseres Dorfes. Sie durchsuchten auch un ser Haus und sagten, wir hätten nichts zu befürchten. Und zwei Tage danach werde ich dann Zeuge, wie Soldaten zwei Mädchen aus unserer Nachbarschaft vergewaltigen und zwei Jungen einfach erschießen. Als er vier Tage nach der Übernahme von Vadamarachi durch die Armee in die Bunker seiner Nachbarn schaut und dort insgesamt mehr als 30 Tote - auch Frauen, Kinder und Alte - entdeckt, ist er endgültig überzeugt, „daß man dieser Armee nicht trauen kann, egal, was sie verspricht“. Abends um acht entschließt sich das Ehepaar zur Flucht. Morgens um sechs fährt das Boot los. Schwerkranke fliehen aus den Kliniken Ein 19jähriger Schüler hebt wortlos sein Hemd und zeigt mir eine Narbe, die die gesamte Bauchdecke überzieht. „Am 16. Mai stand ich um zwei Uhr nachmittags an der Bushaltestelle in Palalai, plötzlich kreisten über uns zwei Hubschrauber und begannen ohne Vorwarnung, auf uns zu schießen. 14 Menschen starben auf der Stelle, 40 wurden verwundet.“ Nach einer Operation wird der Schüler nach einer Woche aus dem Zentralkrankenhaus in Jaffna entlassen, denn nach acht Tagen stellt man dort - egal in welchem Zustand der Patient ist - wegen Medikamenten– und Bettenmangel die Behandlung ein; wer Geld hat, kann sich dann einen privaten Arzt suchen. Während er im Krankenhaus lag, wurden permanent aus dem Armeelager „Fort“ Granaten abgeschossen. Die Ärzte und Krankenschwestern hatten gerade die Station 9, die dem Fort am nächsten liegt, von Patienten geräumt, als der gesamte Trakt durch eine Granate zerstört wurde, „danach flohen selbst Schwerkranke nach Hause“. Ob denn die Angaben von 500 toten Zivilisten, die es während der Offensive auf die Jaffna–Halbinsel gegeben haben soll, von ihnen bestätigt werden könnten, frage ich die Flüchtlinge. „Wir kriegen doch nichts dafür, wenn wir übertreiben“, meint ein 28jähriger Arbeiter aus Velvettiturai, einem der Hauptkampfplätze. Er selbst wurde aus einem Tempel heraus verhaftet, in den er sich mit seiner Familie geflüchtet hatte, und in einem langen Fußtreck nach Point Pedro im äußersten Norden gebracht. Die Zahl der Männer zwischen 16 und 45 Jahren, die während der Offensive verhaftet wurden, wird von mehreren mit 8.000 angegeben. „Wir mußten die srilankanische Flagge tragen und rufen, daß wir keinen Staat Tamil Eelam wollten. Diejenigen, die bei der Hitze ohnmächtig wurden, durften nicht aufgehoben werden, man befahl uns, über sie hinwegzumarschieren. In Point Pedro wurden sie in mehrere Kategorien - Schüler, Studenten, Arbeiter, Angestellte - unterteilt, und nach 28 Stunden Warten begannen die Verhöre. 3.000 Schüler und Studenten wurden dann mit Schiffen ins Armeelager Boosa in den Süden Sri Lankas transportiert. Er selbst wurde entlassen, weil er von einer früheren Inhaftierung in Boosa seine Unschuld nachweisen konnte. „Als ich in der Reihe stand und auf das Verhör wartete, wurden zwei Jugendlichen vor mir die Finger der rechten Hand abgehackt, damit sie keine Waffe mehr bedienen können, wie die Soldaten höhnten“, berichtet der Arbeiter fast teilnahmslos. Guerilla ins Exil Drei Busse warten vor den Toren von Mandapam, um die Neuankömmlinge in andere Distrikte weiterzuleiten. Das Lager ist mit 10.000 Flüchtlingen, die neben weiteren 150.000 Flüchtlingen in ganz Tamil Nadu teilweise schon seit Jahren hier leben, überfüllt. Ein paar Stunden später steige ich in den öffentlichen Bus nach Madras; alle Plätze bis auf zwei sind von der tamilischen Guerilla belegt - leicht am Verhalten und Aussehen zu erkennen. Wenige Kilometer später werden wir durch eine Straßensperre der Polizei gestoppt, die in den Bus eintretenden Zollbeamten erfassen mit einem Blick die Situation und lassen das Gepäck der Militärs bei ihrer Suche nach Schmuggelware völlig unangetastet. Bei der Fahrt durch das nächtliche, ausgedörrte Tamil Nadu fallen mir wieder die Worte der alten Lehrerin in Rameswaran ein: „Wir befürchten jeden Tag, daß die Armee aus ihren Lagern auf Jaffna herauskommt und alles übernimmt, dann werden alle unsere Jugendlichen gefoltert werden.“ Ein Teil der Guerilla, so scheint es, geht rechtzeitig ins Exil - zumindest vorübergehend.