Judenriecher gegen Christusmörder

■ Linzer Vizebürgermeister versucht, Waldheim zur christusähnlichen Märtyrergestalt umzulügen / Die israelitische Kultusgemeinde wird brieflich als „Judensäue“, „ausländisches Teufelsgesindel“, „Gottesmörder“ beschimpft / Mahnwache vor dem Wiener Stefansdom

Aus Wien Michael Siegert

„So machen sich gewisse Leute unbeliebt“, sagte laut ein Österreicher Mitte Dreißig vor mir in der Schlange in der Sparkasse am Franz–Josefs–Kai. Vorne hatte ein Geschäftsmann aus dem Textilviertel die Reihe gewechselt. Durch seine gemäßigt–orthodoxe Haartracht und seinen kantigen Hut war er als Jude zu erkennen. Zumindest für Österreicher, die hervorragende „Judenriecher“ sind (rund 40 Prozent glauben, Juden binnen weniger Minuten als solche identifizieren zu können). Der solcherart Beleidigte zog den Kopf ein und die anderen nahmen es schweigend hin. So ist es hier üblich, denn hier gibt es keinen Judenhaß. Nur 7 Prozent sind Antisemiten, bestätigte unlängst die Creme der österreichischen Volksbefrager den Parteien. Daß zwei Drittel der Österreicher der Meinung sind, wo Juden ein Geschäft beherrschen, komme kein anderer hinein, gilt nicht als Antisemitismus. Wenn das Niederösterreichische Volksblatt der konservativen Partei ÖVP mit der Schlagzeile aufmacht, „Juden fallen wegen Einladung Waldheims über den Papst her“, dann ist auch das nicht antisemitisch. Denn, so erklärt der Chefredakteur, er habe ja nicht „die Juden“ geschrieben, sondern nur „Juden“, es betrifft also nicht alle. Vor dem Krieg gab es in Österreich eine Viertelmillion Juden, jeder zehnte Wiener war einer. Drei Viertel aller Rechtsanwälte, Ärzte, Wissenschaftler, Journalisten waren Juden. Sie wurden ausgerottet (zu einem Drittel) oder zur Emigration gezwungen (zwei Drittel). Heute leben nur mehr rund 15.000 Juden in Österreich, die Hälfte davon ist gläubig. In New York, glauben Österreichs Antisemiten, ist es so wie seinerzeit in Wien. Die Presse ist in der Hand der Juden, das Kapital, die Regierung - da muß ein neuer Hitler her. In ihrem ohnmächtigen Haß gegen die Weltmedien träumen Österreichs Antisemiten eine Fortsetzung des Vernichtungstraums. Die ÖVP–Politiker haben bisher nur indirekt gegen die jüdischen Waldheim–Gegner Stimmung gemacht. Anspielungen wie „gewisse Kreise“ und „diese Herren“ versteht man hier sehr gut. Mitte Mai hat nun der Linzer ÖVP– Vizebürgermeister Carl Hödl dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman, einen Brief geschrieben, in dem er als „Christ und Jurist“ gewisse Feststellungen trifft. Daß Bronfman durch seine Freunde in der Regierung den Dr. Waldheim auf die Watchlist der unerwünschten Ausländer habe setzen lassen, erinnert ihn an Bronfmans Glaubensgenossen vor 2.000 Jahren, „die in einem Schauprozeß Jesus Christus zum Tode verurteilen ließen“. Die Künstler und Jugendlichen, die sich in den letzten Wochen als „Mahnwache des Widerstands“ tagsüber vor dem Wiener Stefansdom aufstellten, kriegen da noch ganz anderes zu hören. Magisch ziehen sie Alt– und Neonazis und sonstige Antisemiten zum therapeutischen Streitgespräch an. Selbst der vorübereilende Durchschnittswiener ruft ihnen Worte zu wie: „Durch den Rost gefallen!“, „Alle vergasen!“, „Neuer Hitler her!“ Der Präsident der israelitischen Kultusgemeinde, Paul Grosz, sieht die österreichischen Juden bereits als „Faustpfand für das jüdische Wohlverhalten außerhalb der Grenzen“. Die Kultusgemeinde bekommt Briefe wie diesen: „Ihr Judensäue! Packt Eure 7 Zwetschgen und sausts nach Israel ab! Ausländisches Teufelsgesindel - Gottesmörder!!!“ In der sozialistischen Partei SPÖ versucht der linke, betont antifaschistische Flügel, einen Bruch mit der Waldheim–ÖVP herbeizuführen. Am Samstag (27.6) setzten Jugendorganisation und Widerstandskämpfer am Parteitag der Wiener Regionalorganisation der SPÖ eine Resolution durch, in der Waldheim zum Rücktritt aufgefordert wird. Die anwesenden SPÖ–Spitzen wollten diesen Beschluß offenbar nicht mit letzter Kraft verhindern. Die ÖVP tut im Moment so, als würde sie das nichts angehen. ÖVP–Vorsitzender und Außenminister Mock: „Waldheim ist vom Volk gewählt, nicht von der Wiener SPÖ.“ Die freiheitliche Partei FPÖ unter dem Jung–Rechten Jörg Haider bietet sich der SPÖ bereits deutlich als Ersatzkoalitionspartner an. Die Waldheim–Affäre erinnert stark an den Fall Taras Borodajkewycz, der schon jetzt zwei Jahrzehnte zurückliegt. 1964 wurde dieser antisemitische Hochschulprofessor, ein führender ÖVP– Nazi, aufgrund von antinazistischen Straßenprotesten außer Dienst gestellt. Dabei gab es auf seiten der Linken den ersten politischen Demonstrationstoten nach 1945, den Rentner Ernst Kirchweger. Zwei Jahre später, 1966, zer brach die Nachkriegskoalition der beiden Großparteien. Die SPÖ– Linken hatten diese Kampagne vor allem betrieben, um dem rechten Flügel der eigenen Partei klar zu machen, daß eine Koalition mit der naziverseuchten FPÖ nicht in Frage komme. Der Vertreter des rechten Kurses, der Gewerkschaftspräsident Franz Olath, flog aus der Partei. Die SPÖ verlor die darauffolgende Wahl und mußte sich in der Opposition regenerieren. Olahs enster Verbündeter, Bruno Kreisky, bekam damals seine Chance. Kreiskys Bündnis mit den bürgerlichen „Nullgruppiern“ in der Mitte reicht heute nicht mehr aus. Am Rand bröckeln die Wähler weg, rechts die Exnazis und Exsoldaten wegen Waldheim, links die Arbeiter wegen den Brankrotts der verstaatlichten Industrie. Das einzige, was die tiefe Schwäche der SPÖ jetzt noch verdeckt und ihr die Mitte vorläufig reserviert, ist das Gerangel zwischen FPÖ und ÖVP rechts außen, im Kampf gegen „die Juden“. Die Wiederbelebung des katholisch gefärbten Antisemitismus destabilisiert die bisherige Nachkriegslinie der Kirche, zwischen den beiden Parteien politisch nicht Stellung zu beziehen. Die Bauern, die in die Stadt abwanderten, sogar die Pendler, wählten bisher die Arbeiterpartei. Nach rechts wirkt auch die fundamentalistische Wende der katholischen Kirche in Österreich, die vom polnischen Papst zwei konservative Dorfpfarrer als Bischöfe verordnet bekam. Als Nachfolger des weitläufigen Kirchenfürsten Franz König wirkt jetzt im Stefansdom der Marienfrömmler Hermann Groer. Waldheim konnte die Präsidentenwahlen 1986 vor allem deshalb gewinnen, weil er die Antisemiten aller Parteien in seinem Lager versammelte. Nach dem Krieg hatten sich die Nazis auf beide Parteien verteilt. Kreiskys Landwitschaftsminister Karl Öllinger mußte 1976 nach wenigen Wochen zurücktreten, da sich herausstellte, daß er Leutnant bei der SS gewesen war. Zwar führt der Ex–Bankdirektor Franz Vranitzky, die Schmidt– Gestalt der österreichischen Sozialdemokratie, bei Umfragen mit drei zu eins haushoch über seinen Koalitionspartner Alois Mock von der ÖVP. Obwohl sich der Vorsprung der SPÖ auf die ÖVP ständig vergrößert, weiß Vranitzky jedoch nicht, wie Anti– Waldheim–Wahlen letztlich ausgehen würden. Deswegen zögert er mit dem Bruch der Koalition.