Richter hebt eigenes Vobo–Urteil auf

■ Aachener Amtsgericht bezeichnet Griff zur Schere als nicht strafbar / „Unter Aufgabe der bisherigen Rechtsauffassung“ gegen sich selbst entschieden / Begründung liest sich wie Anleitung zum Boykott / „Pflichtwidriges Behalten“ der Bögen höchstens Ordnungswidrigkeit

Aus Aachen Bernd Müllender

Das Abschneiden der Kennziffern auf Volkszählungsbögen ist keine Straftat. Nach ähnlichen Gerichtsentscheiden in Lübeck und Pforzheim hat sich jetzt auch das Aachener Amtsgericht in einem aufsehenerregenden Beschluß zu dieser Rechtsauffassung durchgerungen. Frappierend an diesem am Freitag abend bekanntgewordenen Beschluß ist, daß er von demselben Richter stammt, der noch am 7. Mai in der heißen Boykott–Werbephase wegen des Verdachts der Aufforderung zu Straftaten eine großangelegte Beschlagnahmeaktion gegen das Mitteilungsblatt der Grünen, die Grünen Blätter, angeordnet hatte. Er habe halt, schreibt Amtsrichter Fries über seine juristische Kehrtwende, „unter Aufgabe der bisherigen Rechtsauffassung“ nunmehr gegen sich selbst entschieden. Bei einer Razzia Anfang Mai hatten Polizei und Staatsanwalt das Büro der Ratsgrünen, der Bezirksvertretungen, einer Druckerei und die Privatwohnungen von willkürlich Verdächtigten zum Teil in deren Abwesenheit aufgebrochen und durchwühlt. Fast 4.000 Grüne Blätter wurden da mals konfisziert. Die Aachener Grünen hatten darauf Beschwerde eingelegt. Mit seiner Entscheidung hat das Amtsgericht nun die von ihm selbst geforderten Polizeiaktionen für rechtswidrig erklärt und sich somit selbst der Willkür und des Rechtsbruchs bezichtigt. Erstaunlich ist obendrein die Begründung, die auch von einer Boykott–Initiative nicht besser hätte formuliert werden können und sich wie eine Anleitung zum Boykott liest. Das Kennziffernschnibbeln könne schon deshalb keine Straftat sein, weil die Zählbehörden nicht etwa den ausgeteilten und säumigen Bogen ausgefüllt zurückforderten, sondern einfach einen neuen schickten. Daraus sei ersichtlich, so Richter Fries, daß den alten Bögen „von den Behörden selbst keinerlei Gebrauchswert mehr beigemessen wird“. Würden die Boykottaufrufer dagegen empfehlen, die ausgefüllten, also durch die gewünschten Daten „wertvollen“ Bögen ohne Kennziffer an die Ämter zu schicken, läge möglicherweise eine strafbare Sachbeschädigung vor. Doch die Bögen sollten ja gerade „an ein Boykott–Büro“ geschickt werden. Das sei nicht zu beanstanden, also habe die Art und Weise des praktizierten Boykotts keinen Straftatscharakter. Darüber hinaus interpretiert der Amtsrichter das Bundesstatistikgesetz (§ 23) so, daß es „dem Staat als Eigentümer der Fragebögen gleichgültig (ist), was der Bürger mit diesen Bögen, wenn er sie denn nicht zurückschickt, anstellt“. Pflichtwidriges Behalten des Bogens sei höchstens eine Ordnungswidrigkeit. Eine Beschlagnahme so die späte Erleuchtung des Richters, sei somit „ersichtlich unverhältnismäßig“. „Ich glaube nicht, daß dieser Richter trotz des Drucks der Öffentlichkeit dazugelernt hat“, vermutet der Grünen–Ratsherr Günter Schabram. Vielmehr sei es im Mai - möglicherweise unter genauer Kenntnis der Rechtsbeugung - auf nichts anderes angekommen, als die Boykottaufrufer zu kriminalisieren und die Bürger massiv einzuschüchtern. Dies scheint zum Teil auch gelungen. Nicht einmal 3.000 Personenbögen sind bislang in Aachen „ent– ziffert“ bei den Sammelstellen eingegangen. Die angelaufenen Verfahren gegen die fast 30 Grünen–Amtsträger, gegen die gleich kollektiv ermittelt wurde, werden wohl in dieser Woche eingestellt. Und heute dürfen die Aachener Grünen die einst im Mai aufgefundenen Exemplare des periodischen Druckwerks Grüne Blätter - Nr.8 beim Staatsanwalt wieder abholen - jetzt, wo sie längst veraltet sind (Az 41 Gs 1246/87). Durchsuchungen und Festnahmen Obwohl immer mehr Gerichte das Abschneiden der Kenn–Nummern auf den Volkszählungsbögen nicht als Sachbeschädigung werten, diente diese vermeintliche Straftat auch am Wochenende wieder als Vorwand für das Eingreifen der Polizei. In Stuttgart wurden am Samstag bei dem Aktionstag der Vobo–Initiativen im Anschluß an eine Demonstraiton zwölf Personen vorübergehend festgenommen. Als die Volkszählungsgegner leere Fragebögen auf die Fahrbahn klebten und verbrannten, ordnete ein Staatsanwalt die Beschlagnahme der Bögen an. Dabei fühlte sich die Polizei von den Demonstranten behindert. In Borken im Münsterland wurden am Freitag gleich acht Wohnungen von Grünen–Ratsmitgliedern und Vobo–Aktivisten mit einem drei Wochen alten Durchsuchungsbeschluß durchsucht.