„Det war schon allet?“

Hätte es nicht das verkehrstechnische Problem gegeben, wie man 207 Männer auf Rennrädern samt ihren Begleitautos sicher kreuz und quer durch eine Zwei–Millionen–Stadt schleust, die Berliner hätten die „Tour de France“, das „größte Ereignis der Nachkriegsgeschichte“, wie es großspurig hieß, wohl weitgehend ignoriert. Schließlich hatte sie ja auch mal wieder niemand gefragt, ob sie dieses Geschenk zum 750jährigen Stadtjubiläum, das sie überdies noch selber aus der Stadtkasse zahlen mußten, überhaupt haben wollten. Seit Tagen versuchten zwar die Springer–Zeitungen den Berlinern einzureden, sie seien vom Tour–Fieber gepackt, aber das, was die Tour erst zum Gesprächsthema gemacht hat, war das zu erwartende Verkehrschaos vor allem am gestrigen Donnerstag. Auf Minutenlänge waren die Verkehrsmeldungen in den letzten Tagen angeschwollen, in denen die Rundfunksender Umleitungen und totale Verkehrssperrungen durchgab. Elf Din–A4–Seiten brauchten allein die Berliner Verkehrsbetriebe, um aufzulisten, welche Busse und U–Bahnen nicht mehr führen. „Bus–Linie zurückgezogen“ lautete meist der knappe Vermerk, der gestern dazu führte, daß an etlichen Bushaltestellen Trauben von Menschen vergeblich warteten. „Ach wegen der Tour? Stimmt, das haben sie ja im Radio gesagt, aber da hört man ja nicht hin“, meinte denn auch ratlos eine ältere Frau. Vorsorglich hatte die Schulverwaltung den einzelnen Schulen freigestellt, ihren Schülern wegen der prekären Verkehrslage frei zu geben, und selbst daß der Regierungssitz der Stadt, das Rathaus Schöneberg, für eine Weile kaum zu erreichen war, hatte man in Kauf genommen. Vom Tour–Fieber weit entfernt und für Franzosen unvorstellbar, hatten sogar einige Bewohner der über Stunden von der Außenwelt abgeschnitten Stadtteile Gatow und Kladow zunächst noch versucht, mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht ihre „Einkesselung“ durch die Tour zu verhindern. Und kaum denkbar sicher auch für Franzosen, daß bis zu 4.000 Polizisten die Radfahrer vor den Autofahrern schützen mußten und vor eventuellen Aktionen der unberechenbaren autonomen Hönkel (französisch: unkel)–Bewegung. Waren beim Start der Tour, dem sogenannten Prolog am Mittwoch, weniger Zuschauer auf dem zum Champs–Elysees ernannten Ku–Damm, und die in der Deutschlandhalle veranstaltete große „Tour–Party“ selbst nach Meinung der sonst jubelnden Bild–Zeitung ein Reinfall, waren die Berliner am Donnerstag fest entschlossen, gute Miene zum Spektakel zu zeigen. Für echte Begeisterung an der Rennstrecke wollte aber einfach kein rechter Anlaß kommen. Und so wurde vor lauter Langeweile beim ewiglangen Warten auf die Fahrer jedes Toastbrot– oder Cola–Werbefahrzeug und jeder zufällig vorbeiradelnde Zweiradfahrer mit selbst–ironischem Beifall bedacht. Da, wo die Rennstrecke einmal kurz das „Anti–Berlin“ berührte, am Kreuzberger Mehringdamm, ging nur die Berliner Polizei, die mit Lalü–lala die Etappe abfuhr, ohne Beifall aus und mußte sogar vereinzelte Buh–Rufe einstecken - im Gegensatz zu den französischen Gendarmen, die mit ihren vorbeibrausenden Motorrädern demonstrativ beklatscht wurden. Aber dann hieß es nach ermüdendem Warten zum wiederholten Male: „Da kommen sie!“ Bloß als sie dann wirklich kamen, die Fahrer mit ihren hautengen Trikots, da kannte sie keiner dort an der Straße, und niemand wußte so richtig, wem man zujubeln oder wen man anfeuern sollte. Kaum hatten sich die Hände deshalb zum allumfassenden Applaus entschieden, war das Feld auch schon wieder vorbeigesaust. „Det war schon allet?“ stöhnte ein junger Berliner „und dafür hab ick jetzt ne Stunde jewatet?“ „Die sagen ja, daß so was nie wieder nach Berlin kommt“ warf ein anderer versöhnlich ein, und allein diese Einmaligkeit ist schließlich das Dabeisein wert. Noch bevor der letzte Nachzügler der Tour vorbeigesaust war und sich schon seinen Weg durch die Menschen bahnen mußte, war das „größte Nachkriegsereignis“ für die Berliner vorbei, und wenige Meter von dem Schauplatz entfernt, wo die Radfahrer gerade Könige waren, mußten die einfachen „Gebrauchs–Radler“ sich schon wieder ihren alltäglichen Kampf mit den Autofahrern liefern. Vera Gaserow