„Die Schuld der Frauen, weil sie tapfer sind“

■ Eine Tochter entdeckt rund 70 Jahre später die „Feldpostbriefe“ ihrer Mutter aus dem Ersten Weltkrieg - und entschließt sich zur Veröffentlichung. Was bewegt die 74jährige Edith Hagener sich auf diesem Weg mit der Geschichte (von Frauen) zu beschäftigen?

Als ich zu unserer abendlichen Verabredung verspätet erscheine, weil die Kinder mal wieder nicht ins Bett fanden, fragt sie mich interessiert: „Wie geht das eigentlich: Beruf und zwei kleine Kinder?“ - „Es geht eigentlich garnicht“, seufze ich. „Halt durch“, sagt sie, „Die Kinder sind stärker als du.“ Edith Hagener muß es wissen. Drei Söhne hat sie großgezogen, „in schwerster Zeit“, einen großen Haushalt erledigt und ein Leben lang die wissenschaftliche Laufbahn ihres Mannes schreibend, beratend, kritisierend begleitet. Daß sie auf letzteres auch noch stolz war, hält sie heute für „glatten Selbstbetrug“. „Viel Zeit nutzlos vertan“ - diese persönliche Bilanz zog sie vor 15 Jahren. Mit fast sechzig Jahren versuchte die gelernte Buchhändlerin einen Einstieg ins Erwerbsleben, indem sie im Auftrag eines Marktforschungsinstitutes fremde Leute über ihre Konsumgewohnheiten ausfragte. Ihre Neugier auf andere Menschen und die Fähigkeit, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, wandte sich bald anderen Gegenständen zu. Sie fand Kontakt zur 218–Bewegung der siebziger Jahre und machte sich auf die Suche nach älteren und jüngeren Frauen, die sie über ihre Erfahrungen mit Kinderkriegen und Abtreibungen befragte. Aber zu ihrem eigentlichen Thema kam die heute 74 Jahre alte Frau mit einem staubigen Karton voller alter Briefe, den sie im Nachlaß ihrer Mutter fand: Briefe, die die junge Ehefrau und Mutter an ihren Mann, den Kolonialwarenhändler und Kriegsfreiwilligen Julius Boldt im Ersten Weltkrieg „ins Feld“ verschickt hatte. Sie fand darin nicht nur ein persönliches Dokument von unschätzbarem Wert, sondern auch ein lebendiges Zeitzeugnis, wie es aus der Sicht einer Frau selten erhalten ist. „Es lief sich so sicher an Deinem Arm“ heißt das kürzlich erschienene Buch, das Edith Hagener aus diesen Briefen gemacht hat (s. Kasten). Sie selbst war gerade zwei Jahre alt, als der Vater im April 1915 in russischer Gefangenschaft an Flecktyphus starb. Und sie erlebte die Mutter, zu der sie zeitlebens ein schlechtes Verhältnis hatte, fortan als „früh zerstörte und schutzsuchende Frau, die immer wieder an Männer geriet, die sie in die Pfanne hauten oder verließen. Und die ewige Litanei meiner Großmutter war: Wer ist auch so dumm und heiratet eine Frau mit zwei Kindern.“ Daß ihre Mutter eine starke Frau voller Liebe und Lebensmut gewesen war, bevor der Krieg in ihr Leben eingriff, und daß sie ihre Gefühle und Erlebnisse ausdrucksstark formulieren konnte, hatte sie nicht gewußt. Aber gerade die Genauigkeit, mit der die Mutter ihre Zerrissenheit zwischen patriotischen Gefühlen und privater Angst, eigener Stärke und Unterwerfung unter den Mann dokumentierte, schützt auch davor, sie nur als Opfer zu sehen. „Durch Hannchens Briefe ist mir klargeworden, wie sehr wir Frauen in die Geschichte verstrickt sind“, sagt Edith Hagener. „Die Schuld, die Frauen auf sich nehmen, weil sie tapfer sind - bei Hannchen kann ich sie sehen. Die Frau hat über 5.000 tote Russen ja noch bejubelt, weil sie gedacht hat, wenn die alle tot sind, kommt ihr Julius heil zurück. Der Gedanke, daß das auch alles Juliusse waren, ist ihr nicht in Schattenblässe gekommen.“ Auch Edith Hagener war jungverheiratet und junge Mutter, als ihr Mann 1940 als Soldat eingezogen wurde. Vor Kriegsbegeisterung war da zwar keine Spur. „Aber auch ich habe weitergemacht, habe auf die Kinder aufgepaßt und ihm herrliche, zuckrige Kinderschilderungen geschickt. Und habe ihm verschwiegen, wenn ich in diesen Bombennächten die Kinder aus dem Schlaf reißen mußte.“ Edith Hageners Interesse an dieser Form der Geschichtsforschung erwachte mit den Briefen ihrer Mutter. In einer Hamburger Tageszeitung gab sie eine Anzeige auf: Feldpostbriefe gesucht. „Und dann ging das Telephon immerzu.“ Viele, die Edith Hagener die Briefe ihrer Angehörigen überließen, zeigten sich selbst „merkwürdig wenig interessiert“ an deren Inhalt. Es schien so, als würden sie sich mit den Papierbündeln in Koffern und Kisten eher von einer Last befreien. „Mit einer Affengeduld“ hat Edith Hagener dann diese, meist in „Sütterlin–Schrift verfaßten Originale gesichtet, sortiert und abgetippt. Eine Arbeit, in die sie zeitweise „richtig hineingekippt“ ist und die den gewohnten Alltag reichlich durcheinanderbrachten. Ermutigung geht vor allem von einem Kreis junger HistorikerInnen aus, mit dem sie zum Thema Feldpostbriefe inzwischen zusammenarbeitet. Auch im Museum für Hamburgische Geschichte gibt es eine Sammlung von Feldpostbriefen, allerdings nur von Männern. Noch in diesem Jahr will das Museum eine vollständige Dokumentation der „Hannchen–Briefe“ veröffentlichen. Edith Hagener besitzt nun eine weitere Sammlung von Briefen einer Soldatenfrau: Und das sind die Briefe, die sie selbst von 1940 bis 1945 an Caesar Hagener „im Felde“ schrieb. Ohne von der Briefsammlung ihrer Mutter zu wissen, hatte auch sie ihren Mann gebeten, ihre Briefe aufzubewahren, und gebündelt zurückzuschicken. Ein erster Versuch, sich der Lektüre dieser Briefe zu nähern, endete in Tränen. „Unsere auftauchenden Kriegserinnerungen müssen wir im Zaum halten, damit wir nicht nur noch weinen oder um uns schlagen“, sagt Edith Hagener. Und im nächsten Satz: „Das möchte ich erreichen: Daß klar wird, daß alles nicht vergangen ist und daß es uns heute noch beschäftigt. Und daß diese Zeugnisse erhalten bleiben, weil es für euch so schwer vorstellbar ist.“ Irene Stratenwerth