Bewährungswiderruf nach Blockade

■ Sieben Jahre nach dem großen Protest gegen Rekrutenvereidigung im Bremer Weserstadion muß eine 32jährige Frau für ein Jahr hinter Gitter, weil sie an der Blockierung des AKW Esenshamm teilgenommen hat

Aus Bremen Dirk Asendorpf

Ein spätes Nachspiel hatten am vergangenen Mittwoch die Ereignisse des 6. Mai 1980. Über 10.000 BremerInnen protestierten damals gegen eine öffentliche Rekrutenvereidigung im Weserstadion. Vor dem Stadion entwickelte sich aus der Gegenkundgebung dann eine große Schlacht zwischen Polizei und DemonstrantInnen. Eine Frau, die damals dabei war, sitzt seit Mittwoch für zwölf Monate hinter den Gittern der Bremer JVA Oslebshausen. Sigrid H. (32), genannt Mirca, war Ende 1984 in zweiter Instanz wegen Landfriedensbruchs und Widerstandes gegen die Staatsgewalt verurteilt worden. Auf einem Polizei–Video wollen Polizisten sie identifiziert haben. Ein Jahr Gefängnis, das für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde, lautete das juristisch sehr umstrittene Urteil, das erst im Januar 1986 rechtskräftig wurde. Ab diesem Zeitpunkt begann die Bewährungsfrist. Ende April des gleichen Jahres flog in Tschernobyl das AKW in die Luft. Am 14. Mai saß Mirca mit 40 anderen BremerInnen auf der Zufahrt des AKW–Esenshamm und blockierte für ein paar Stunden den LKW–Verkehr. Das trug ihr einen Strafbefehl über 400 Mark ein, den sie bis Januar 1987 in Form von gemeinnütziger Arbeit abgolten hatte. Doch dann hatte die Staatsanwaltschaft eine Idee, Mirca wegen ihrer Beteiligung am „6. Mai“ doch noch hinter Gitter zu bringen. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft beschloß das Amtsgericht Hamburg–Altona, die Bewährung der Strafe für den „6. Mai“ zu widerrufen. Das Hamburger Gericht war zuständig, weil Mirca dort ihren ersten Wohnsitz hat, „um einer Wohngemeinschaft den Mietvertrag zu erhalten“, wie ihre Freunde wissen. Der Gerichtstermin, das Urteil und auch die Aufforderung zum Haftantritt gingen an die Hamburger Adresse. Doch die Abholkarten der Post blieben liegen, und die Zustellungsurkunden gingen zurück an die Absender. Denn Mirca wohnt seit 1981 an ihrem zweiten Wohnsitz in Bremen. So verstrichen alle Fristen und damit die Möglichkeit eines Einspruchs. Seit dem 1. Juni schließlich suchte die Polizei mit einem Haftbefehl der Bremer Staatsanwaltschaft nach der 32jährigen. Sie brauchte einen Monat, um Mirca an ihrem ordentlich gemeldeten Bremer Wohnsitz festzunehmen, wo sie sich die ganze Zeit über aufgehalten hatte. „Mirca, unsere Freundin“, entfuhr es Frank Herrmann vom 15. Kommissariat der Bremer Kripo, zuständig für „Delikte von anarchistischen Gewalttätern, auf die Frage der taz nach Sigrid Hertel. Doch dann verwies er auf die Polizeipressestelle. Die recherchierte, daß der Haftbefehl als „Irrläufer“ zunächst an die Bremer Kripo gegangen ist, von dort dann an die Hamburger Kripo und, nachdem Mirca an ihrem ersten Wohnsitz nicht angetroffen wurde, wieder zurück an die Bremer Kripo. Dieser Dienstweg habe vom 1.6. bis zum 26.6. gedauert. Warum Mirca von dem Verfahren auf Widerruf ihrer Bewährung nicht erfuhr, obwohl sie doch offensichtlich bei Bremer Staatsanwaltschaft wie auch Polizei so gut bekannt ist, ließ sich bei der Hamburger Justizverwaltung nicht klären. Die Unterlagen wurden „durch Übergabe zugestellt“, entnahm Staatsanwalt von Bock und Polach den Akten. Warum sich die Behörden jedoch nicht einmal vor Ausstellung des Haftbefehls die geringe Mühe machten, nach der Gesuchten dort zu suchen, wo sie gemeldet ist, bleibt eine offene Frage. Möglich wäre, daß die Bremer politische Polizei die Gunst der Stunde nutzen wollte, die seit zehn Jahren in der autonomen Szene aktive Frau aus vollem Herzen zu observieren. Denn wenn ein Haftbefehl vorliegt, lassen sich die erforderlichen richterlichen Genehmigungen für das Öffnen der Post und das Abhören des Telefons leicht bekommen.