I N T E R V I E W Geschichtsbewußtsein ist unteilbar

■ Henri Alleg, einstmals Mitstreiter der algerischen Befreiungsfront FLN und späterer Chefredakteur der Humanite, zur Strategie von Barbie–Verteidiger Verges Henri Alleg ist Frankreichs Kronzeuge für die Verbrechen der französischen Armee im Algerienkrieg. Für Barbie–Verteidiger Jacques Verges wäre Alleg der Zeuge „par excellence“. Im taz–Gespräch erklärt Alleg, warum er heute seinem ehemaligen Freund und Weggefährten Verges nicht folgen kann. Als Arbeitssuchender war Henri Alleg nach dem Zweiten Wltkrieg ins französische Algerien gekommen und avancierte schnell zum Chefredakteur der zweitgrößten algerischen Tageszeitung Alger Republicain, die der algerischen Befreiungsfront FLN nahestand. Nach Ausbruch des Kolonialkrieges wurde die Zeitung verboten, Alleg kam ins Gefängnis und wurde dort gefoltert. In der Haft schrieb er sein inzwischen berühmtes Buch „Die Folter“ (“La Question“), das, 1958 in Paris erschienen, erstmals die Folter in Algerien dokumentierte und in der Öffentlichkeit für Aufuhr sorgte. Alleg floh 1961 nach viereinhalb Jahren Haft aus dem Gefängnis. Später wurde er Mitglied der KPF und Chefredakteur der Humanite. Alleg gehört zu den ganz wenigen Franzosen, denen die algerische „Medaille der Resistance“ verliehen wurde.

taz: Monsieur Alleg, Ihr ehemaliger Freund und Mitstreiter im Dienste der FLN, Jacques Verges, verteidigt heute Klaus Barbie, und dies, so seine Worte, „weil er Verteidiger der FLN“ war. Schockiert es Sie heute ebenfalls, daß, wie Verges sagt, „die französischen Behörden, welche die in Algerien begangenen Verbrechen amnestiert haben, über die von Deutschen begangenen Verbrechen urteilen wollen“? Henri Alleg: Ich war Zeuge der Verbrechen und Ungeheuerlichkeiten, die von französischen Kolonialisten in Algerien begangen wurden. Ich habe von diesen Verbrechen nicht nur gehört, ich habe sie miterlebt. Zwei meiner engsten Freunde in Algier sind unter der Folter zu Tode gekommen. Allein in Algier sind 3.000 Menschen verschwunden, ohne daß man je von ihnen wieder Kenntnis genommen hat. Sie standen auf keiner Liste, wurden gefoltert, lebend verbrannt, ermordet. Der algerische Massenmord ist ein Geschehnis, das nicht vergessen werden kann, unabhängig von allen Amnestien. Deshalb ist es verständlich, daß die Algerier heute eine gewisse Bitterkeit verspüren, wenn sie sehen, daß dieser Folterer verurteilt wird, während andere, von denen sie denken, daß sie auf algerischem Boden ähnliche Dinge gemacht haben, nicht verurteilt werden. Dennoch empfinde ich die Dialektik, die von Verges benutzt wird, skandalös. Denn in wessen Namen kann man behaupten, daß man nicht das Recht hätte, diesen Folterer und Mörder zu verurteilen, nur weil es andere Folterer und Mörder gibt, die niemals verurteilt wurden? Es ist ein Betrug, im Kampf gegen das Vergessen von Algerien das Vergessen einer anderen Zeit zu fördern. Geschichtsbewußtsein ist nicht teilbar. Ich will alle Auseinandersetzungen führen, aber man kann heute nicht sagen, in welchen Rahmen das möglich sein wird. Sie waren im Barbie–Prozeß von der Zivilklägerschaft als Zeuge geladen. Wegen einer USA–Reise, so haben Sie erklärt, wäre es Ihnen unmöglich, zum Prozeß zu erscheinen. So wichtig scheint Ihnen also der Prozeß nicht zu sein. Gäbe es denn einen Prozeß, der für Frankreich wichtiger wäre als der Barbie– Prozeß? Es gibt da zum Beispiel Maurice Papon, der als Präfekt von Bordeaux während des Zweiten Weltkrieges geholfen hat, jüdische Kinder zu deportieren. Später war er Präfekt in Algerien, dann sogar Polizeipräfekt von Paris. ( Henri Alleg geht ans Fenster des Redaktionsversammlungsraum der Humanite, in dem wir sitzen, und zeigt auf die Porte Saint– Denis.) Dort gegenüber hat Papon noch 1961 fünf Algerier erschießen lassen. Heute ist er 75 Jahre alt, im Ruhestand und sieht einem ruhigen Tod entgegen. Doch will ich diese Sachen im Zusammenhang mit dem Barbieprozeß nicht erwähnen. Das Gespräch führte Georg Blume