Zuviel Schweigen im Barbie–Prozeß

■ Gestern ging in Lyon der Prozeß gegen Klaus Barbie zu Ende / Aus Lyon Lothar Baier

Der Barbie–Prozeß ist vorbei. Nach ausführlichen Zeugenaussagen, die an der Schuld Barbies keine Zweifel haben aufkommen lassen, hatte sein Verteidiger Verges das letzte Wort. Die groß angekündigte Abrechnung mit den französischen Kollaborateuren ist ausgeblieben, die Anklage gegen den französischen Staat und Greuel der Franzosen in Algerien eher allgemein ausgefallen. Ein Bericht aus dem Gerichtssaal und ein Interview mit einem ehemaligen Kampfgefährten von Jacques Verges.

Der letzte Tag im Barbie–Prozeß, der von den französischen Zeitungen der „längste Tag“ genannt wird, als ginge es um eine Entscheidungsschlacht, ist kein gewöhnlicher Gerichtstag. Die Sicherheitsvorkehrungen sind verstärkt. Klaus Barbies Tochter Ute Messner ist aus Österreich angereist. Die blauen Akten des Prozesses sind auf einem Tisch im Blickpunkt des Saals aufgebaut, damit das Fernsehen etwas zu filmen hat, wenn es in einer Pause Zutritt zum Gerichtssaal erhält. Die letzten Stunden des Prozesses, bevor sich die neun Geschworenen und die drei Berufsrichter zur Entscheidung über den Schuldspruch zurückziehen, beherrscht uneingeschränkt die Regie der Verteidigung. Es liegt nicht nur an der Masse der zum Prozeßende aus allen Himmelsrichtungen herbeigeeilten Medienvertreter, daß Jacques Verges, das dankbarste, weil obskurste Objekt der Medienbegierde, im Schlußplädoyer zu seiner Höchstform findet. Mag er auch den Showcharakter anprangern, den der Prozeß unzweifelhaft von Anfang an besaß, so ist es eben das von der Show erzeugte Klima, dem er die Resonanz seines Auftritts verdankt. Es liegt aber auch an dem Terrain, auf dem sich der Prozeß hin– und herbewegt, dem Terrain der Wörter, daß Verges das Feld beherrschen kann. Es geht ihm nicht um die Bedeutung der Worte, sondern um ihre Wirkung: Die Wirkung, die sie auf die Geschworenen ausüben, deren „innerste Überzeugung“ bei der Urteilsfindung den Ausschlag gibt und auf deren „innere“ Seite die Worte der Verteidigung zielen. Werden die Geschworenen mit sich im Reinen sein, wie sie, nach dem von Verges auf sie abgefeuerten Trommelfeuer, bei ihrer Entscheidung einer Überzeugung folgen, die sich nicht erst hat bilden müssen, weil sie von Anfang an feststand? Als Verges schwarzer Mitverteidiger Jean–Martin MBemba von den Kolonialverbrechen in Afrika sprach, von der Sklavenarbeit im Kongo und den Massakern in Madagaskar, die selbst vor Parlamentsabgeordneten nicht haltmachten, war sichtlich das Herz der Anwesenden angesprochen, denn selbst die Gegenseite zeigte sich von dem Ernst der Anklage berührt. Aber das war nichts als ein Vorspiel, ebenso wie Verges feierliche Berufung auf die Tradition des französischen Rechts, die er durch ein Urteil aufgrund des Gesetzes über nichtverjährbare Verbrechen bedroht sieht. Auch wenn weiter von Recht und Gesetz die Rede ist, regieren die Gesetze der Ästhetik das Hauptgeschehen des Plädoyers. Diese Gesetze wollen, daß auch demjenigen Triumphe gegönnt werden, dessen Niederlage am Ende beschlossene Sache ist. Sie verwandeln den Prozeßbeobach ter in einen Theaterzuschauer, der die kleinen Triumphe goutiert, ohne ihre Bedeutung nachprüfen zu können. Unter diesen Bedingungen geht der Verteidiger an die Anklagepunkte heran und zerrt, indem er sie auseinandernimmt, die Schwächen der Prozeßführung ans Licht. Von dem einzigen Zeugen, der Barbie während des Überfalls auf das Büro der jüdischen Zwangsorganisation UGIF gesehen haben will, bleibt nichts mehr übrig, nachdem selbst der Staatsanwalt in seinem Plädoyer Zweifel angemeldet hatte. Der Verteidiger versteht es, aus dem latenten Unbehagen, das sich Wochen vorher unter den Beobachtern gegenüber der Behandlung dieses Tatkomplexes eingenistet hat, größten Profit zu ziehen. Es rächt sich, daß trotz vieler Worte viel geschwiegen worden ist, daß sich das Gericht mit Andeutungen begnügt hat, im blinden Vertrauen darauf, daß sich der Kern der Sache von selbst versteht. Verges hat leichtes Spiel, den Geschworenen zuzurufen, daß man sie „nicht als Erwachsene ernstgenommen hat“, weil man darauf verzichtete, ihnen Dokumente zu zeigen, die sie verwirren könnten. Es überrascht nicht und schockiert auch nicht, daß Verges im Fall der Deportation nach der Razzia auf die UGIF auf völlige Unschuld Barbies plädiert. Das Gericht erfährt erst aus dem Mund des Verteidigers, daß die zuvor als Widerstandsorganisation eingeführte UGIF einen Monat nach der Razzia den deutschen Behörden von sich aus die Namen ihrer staatenlosen Mitarbeiter übergab, die sie dann entließ. Es rächt sich grausam in den letzten Stunden des Prozesses, daß das Gericht den aufgerufenen Zeugen nicht die Nachfragen gestellt hat, die zur Klärung von Widersprüchen zwischen den Aussagen hätte führen können, denn nun ist es der Verteidiger, der alle diese Widersprüche auf sein Konto buchen kann. Bei dem letzten Deportationstransport, der Lyon am 11. August 1944 verließ und dessen Zusammenstellung Barbie beschuldigt ist, haben die nicht weiter durch Nachfragen erhellten Zeugenaussagen die Auswahl zwischen vier verschiedenen Bahnhöfen hinterlassen, an dem der Transport abgefertigt wurde, einmal ohne Barbie, einmal mit Barbie in Uniform, ein andermal in Zivil. Verges hat ein viel zu leichtes Spiel, weil das Gericht die Zeugen nicht als Subjekte ernstgenommen hat, die auf Fragen antworten können, sondern sie nur als Symbole des Horrors hat auftreten lassen. Und weil wichtige Zeugen überhaupt nicht zitiert worden sind. Weil das Gericht es zugelassen hat, daß ein Foto weiter durch die Akten geistert, das nicht den SS– Obersturmführer Barbie zeigt, sondern einen Wehrmachtsunteroffizier, und weil, als Symbol der ermordeten jüdischen Kinder, ein Foto herumgezeigt werden konnte, das einen später dem Massaker Entkommenen abbildet. Schleißlich kan Verges die Echtheit des Izieu–Fernschreibens, das die Räumung des Kinderheims meldete, mit Hilfe zahlloser interpretationsbedürftiger Detailaussagen bestreiten, ohne daß einer der sachkundigen Nebenklageanwälte im Saal wäre, um ihm anschließend mit Argumenten zu begegnen. Die Wirkung der Worte, die ja nur den Anschein von Wahrheit braucht, macht es aus, daß die Unschuldserklärung der Verteidigung nicht schlichtweg irrsinnig klingt. Mit diesem Klang im Ohr haben die geschworenen und Richter, in deren Haut jetzt niemand stecken möchte, über Schuld oder Unschuld abzustimmen. Lothar Baier