Ein exemplarischer und historischer Prozeß

■ Rückblick auf das Verfahren gegen den ehemaligen Gestapo–Chef von Lyon, Klaus Barbie, in Frankreich Die französische Presse sieht die in den Prozeß gesetzten Erwartungen erfüllt

Aus Lyon Lothar Baier

Die Verurteilung Klaus Barbies zu lebenslänglicher Haft am Ende des acht Wochen lang geführten Schwurgerichtsprozesses in Lyon hat niemanden überrascht. Im Gerichtssaal war sie mit Applaus empfangen worden. Die französische Presse ist einmütig in der Einschätzung, daß der Barbie–Prozeß die Erwartungen erfüllt hat, die in ihn gesetzt worden waren: Ein juristischer Begriff, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, hat durch den Prozeß Konturen erhalten. „In gewisser Weise ist dieses Verbrechen erst heute, am Ende des Prozesses, entstanden“, schreibt Liberation–Lyon. Ein exemplarischer, ein nützlicher, ein historischer Prozeß, so lautet der Tenor der meisten Kommentare. „Ein lehrreicher Prozeß“, schreibt der Figaro, „denn man hat an der äußersten Aufmerksamkeit der jungen Generation ablesen können, daß sie von den zutiefst unmenschlichen Schrecken des letzten Krieges fast nichts wußte“. Wenn auch in dem einen oder anderen Kommentar ein Unbehagen über die Prozeßführung selbst zum Vorschein kommt, so trösten sich die Autoren über ihre Malaise mit der Auskunft hinweg, daß weniger ein Mann als ein verbrechererisches System zu verurteilen war. Was ist ein „historischer Prozeß“? Wenn es darum ginge, aufgrund der Prozeßprotokolle ein Geschichtsbuch über den Nationalismus, den Zweiten Weltkrieg und die „Endlösung“ zu schreiben, hätte der Barbie–Prozeß den Titel „historisch“ gewiß nicht verdient. Viel zu viel wurde verschwiegen, viel zu oft hat man sich mit Anspielungen begnügt, wo die Aufklärung von Zusammenhängen am Platz gewesen wäre, zu viele von den Aussagen, die mehr die geschichtliche Landschaft beschreiben wollten als den kleinen Platz, auf dem sich die Taten des SS–Obersturmführers Barbie abspielten, wurde weggestrichen, weil das „nicht zur Sache gehörte“. Daß es die Denunziation gab, die der Gestapo Opfer zutrieb, und die Kollaboration, die sich an den Verbrechen der deutschen Besatzer beteiligte, das wurde zur Kenntnis genommen, aber nach der Person der Denunzianten und Kollaborateure, nach ihren Motiven und ihrem Schicksal wurde nicht gefragt. Darüber hatte das Schwurgericht schließlich auch nicht zu befinden. Dennoch ist es unbestreitbar, daß der Barbie–Prozeß in Frankreich ein Nachdenken über die eigene Geschichte in Gang gebracht hat, das den Rahmen akademischer Historiographie bei weitem sprengt. In zahlreichen Schulen haben sich Arbeitsgruppen gebildet, die sich mit der Realität der Resistance vor Ort und nicht mehr nur mit ihrem Nachruhm beschäftigen, und die sich fragen, wie die breite Zustimmung zum autoritären Regime des Marschalls Petain zustandekam. Während der ganzen Dauer des Prozesses hat Liberation–Lyon ihre Leser täglich mit einer Dokumentation über Lyon als „Hauptstadt der Resistance“ und als Schauplatz der alltäglichen Kollaboration mit der Okkupationsmacht versorgt. Die von der französischen Armee in den Kolonien und in Algerien begangenen Verbrechen sind nicht nur von Barbies Verteidiger, sondern auch von Zeugen wie dem Schriftsteller Andre Frossard und dem Mathematiker Laurent Schwartz beim Namen genannt worden. Das durch den Prozeß aufge wühlte öffentliche Klima hat schließlich dafür gesorgt, daß das jüngst privatisierte Erste Fernsehprogramm TF1 nach langem Zaudern Claude Lanzmanns Shoah ausstrahlte, trotz später Sendezeit mit hohen Einschaltquoten. Das neuerwachte Interesse an den Schattenzonen der eigenen Vergangenheit ist in Frankreich als ein Ereignis von historischer Bedeutung empfunden worden. Doch gerade der Vergleich mit Shoah zeigt, worin sich der Barbie–Prozeß selbst daran gehindert hat, zu einem historischen Lehrstück zu werden. Niemals ist wäh rend des Prozesses von einem der als Historiker aufgerufenen Zeugen der historische und organisatorische Weg nach Ausschwitz so klar beschrieben worden, wie es Raoul Hilberg vor Lanzmanns Kamera gelang. Niemals sind die vor Gericht aufgerufenen Zeugen der Tat so nachdrücklich nach den Einzelheiten der für sie schwer erträglichen Erinnerung befragt worden, wie Lanzmanns Zeugen vor der Kamera befragt worden sind. Der Filmregisseur Lanzmann hat auf seine Weise besser historischen Gerichtstag gehalten, als das Schwurgericht in Lyon, das sich der wiederspruchsvollen Aufgabe gegenüber sah, einmal die Dimension des Verbrechens der „Endlösung“ erkennen zu lassen, um das Außerordentliche des ersten Verfahrens über Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu rechtfertigen, und die Dimension gleichzeitig zu begrenzen, damit die Person des zu verurteilenden Täters, des Gestapochefs von Lyon Klaus Barbie, nicht ganz im Rauch der Krematorien verschwindet. Zwischen den Alternativen, mehr der Historie oder mehr der formalen Gerechtigkeit zu dienen, hat es sich für einen Mittelweg entschieden, auf dem die Beteiligten öfter ins Stolpern geraten sind. Wenn ein Fernsehfilm die eingeschränkte Sprache eines Gerichtsverfahrens erst historisch lesbar macht, so bleibt auf der anderen Seite der zweideutige Eindruck zurück, daß eben diese historische Ergänzung gleichzeitig mit einer Urteilsfindung stattfindet, deren Autorität von ihrer Unabhängigkeit abhängt. „Im französischen Kontext von 1987“, schreibt der Quotidien de Paris, „können die Geschworenen nur in formaler Hinsicht frei entscheiden. Wie hat man in einem System, in dem die Geschworenen jeden Abend nach Hause zurückkehren, die Taktlosigkeit entwickeln können, im Fernsehen den wunderbaren Film Shoah auszustrahlen, dieses niederschmetternde außergerichtliche Zeugnis gegen einen Mann, dessen Verfahren noch läuft?“ In Lyon hat nicht nur das Schwurgericht, sondern auch das Fernsehgericht getagt, und das Zwielicht, in dem der Prozeß zu Ende ging, bleibt auch an der Geschichte haften, deren Erhellung er dienen sollte.