Liberte, egalite, modernite! - Frankreich im Umbruch

■ Auf der industriellen Landkarte Frankreichs gibt es Ost–West– und Nord–Süd–Widersprüche / High–Tech–Industrien wandern in Richtung Sonne - der Süden erstrahlt

Von Alexander Smoltczyk

Allen Pariser Debatten über die Postmoderne zum Trotz: Frankreichs Industrie zumindest leidet immer noch daran, nie mit ganzem Herzen in die Moderne eingetreten zu sein. Zwar wurde Rimbauds Schlachtruf „Wir müssen uneingeschränkt modern sein!“ von Louis Renault und seinesgleichen begierig aufgegriffen, wurde skandiert von den Fließbändern in Billancourt, den Stahlpressen in Sochaux, der Peugeotstadt im Jura und den Fördertürmen Lothringens. Doch „en province“, gleich vor den Toren von Paris, blieb es ruhig: Frankreich blieb ein bäuerliches Land. Die kleine Klitsche, in der der Patron den Ton angab und der soziale Dialog sich im Gebrüll der einen, sprechenden Gesten der anderen Seite erschöpfte, blieb kennzeichnend für die französische Industrielandschaft. Autos und Weine, später dann Waffen, sorgten dafür, daß die Handelsbilanz nicht zu sehr ins Minus geriet. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Frankreichs Industrie ist immer noch erfolgreich im Verkaufen an die Armen der Welt, aber in Konkurrenz zu Industrieländern schreibt sie rote Zahlen. Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. War es doch ein Franzose, Graf Saint–Simon, der das Wohl der Industrie zum Allgemeinwohl erklärte: „Alles entsteht durch die Industrie, also soll ihr auch alles dienen!“ Kein Staatsmann der französischen Republik konnte sich dieser Logik entziehen, bis heute nicht. Von de Gaulle über Pompidou bis zu Mitterrand stand noch jede präsidiale Amtszeit unter dem Motto „Das Land modernisieren“. Aber auch darin waren die Chefs sich ähnlich, daß sie nichts so sehr schätzten, wie sich auf ihre Landsitze in Colombey–les–deux– Eglises oder Latche zurückzuzie hen. Vielleicht mochten sich bei diesem Beispiel auch ihre Untertanen unter dem Banner der Modernität nie so recht zuhause fühlen. Nicht zuletzt wurde 1981 auch deshalb gewählt, weil viele Franzosen sich vor der Öffnung ihres Binnenmarktes, die Giscard ein geläutet hatte, fürchteten. Daß es dann ein sozialistischer Präsident sein würde, der Frankreichs Industrie den rauhen Wettern der Weltmarktkonkurrenz aussetzen wollte, war eine Finte des Weltgeistes: ein Konservativer wäre politisch nicht dazu in der Lage gewesen. Der Strukturwandel hat Frankreich mit einer neuen Maginotlinie versehen: die Krisengebiete reihen sich an der Ostgrenze auf wie aus der Mode gekommene Perlen. Dünkirchen, Valenciennes, Longwy, das Tal der Meuse, dort wo erst Zechen, dann die Bomben die Erde aufwühlten, stehen alle Räder still. Für die Montanindustrie ist auch in Frankreich kein Platz mehr. Hier in Lothringen liegt die Arbeitslosigkeit im Schnitt bei 15 Durchschnitt verhüllt wie immer manches Leid einzelner Gebiete. Auch in Frankreich rutscht der Wohlstand seit einigen Jahren langsam nach Süden; auch in Frankreich wird der Raum neu zentriert: der Bruch zwischen reichem Süden und verarmtem Norden setzt sich an die Stelle der alten Aufteilung in ländlichen Westen und industriellen Osten. In Creusot, am Ufer der Loire, sind noch die Hallen des liquidierten Stahltrusts gleichen Namens zu sehen, doch gleich dahinter, vom Südosten Lyons bis Grenoble verbreitet sich Avantgarde–Technologie: Hewlett Packard, Wang und das Hightechtelmechtel, das das Glück der Lokalpolitiker macht. Grenoble ist das Forschungszentrum Frankreichs geworden. Hier sitzt die Europäische Atombehörde, und hierher pflanzte Mitterrand, zur Empö rung der Elsässer, das Strahleninstitut der EG SYNCHROTRON. Fährt man weiter gen Mittelmeer bleiben zwei Wege. Ein Weg führt über Marseille, am hochmodernen und doch überholten Stahl– und Aluminiumhafen Fos vorbei, nach Nizza. Dort träumt der konservative, und von Skandalen nicht ganze freie, Bürgermeister Medecin den Chip–Traum in seinem Industriepark Sophia Antipolis. Doch selbst die Moderne hindert ihn nicht, zur Machtabsicherung Absprachen mit dem rechtsradikalen Front National zu treffen. Auch in Montpellier, wohin der zweite Weg südwärts zur Sonne führt, wird geträumt. Georges Freche stieg von den Barrikaden des Mai 68 herunter, wurde braver Sozialist, Abgeordneter, Bürgermeister, und machte sich an die Arbeit. Die verstaubte Unistadt ist inzwischen mit Computerfirmen, Agrar– und Medizinforschungszentren umstellt und ein Kongreß jagt den nächsten. Freche und Medecin, das sind zwei Wahlverwandte Saint–Simons, links und rechts der Rhone - und sehr weit entfernt vom darbenden Norden. Zwei ungleiche Vertreter der Moderne, die in Frankreich noch eine Zukunft hat. Daß generell in Frankreich mit Ausnahme der Kommunisten ein Konsens über die notwendige Modernisierung besteht, zeigt auch ein anderes Beispiel. Chirac privatisiert Industrien, die einst von den Sozialisten verstaatlicht wurden. Doch ist dies kein Widerspruch, sondern industriepolitische Dialektik. Denn die Verstaatlichungen von 1981 dienten, entgegen aller Mythenbildung, dazu, strategische Branchen zu monopolisieren, mit Subventionen durchzurationalisieren und sie dann - als „Force de frappe industrielle“ - den Auslandsmarkt erobern zu lassen. Der Elektrotrust CGE etwa wird in diesen Wochen feingestückelt in Form von Aktien über die Bankschalter geschoben. Er gilt als erstklassige Anlage. Zum Sortiment der CGE gehören der Superschnellzug TGV ebenso wie AKW–Technologie und die französische Telekommunikation. Daß CGE in diesen strategischen Branchen führend ist, verdankt sie - den Sozialisten! Denn sie schafften es, durch Ent– und Verflechtungen mit anderen Staatsunternehmen die entscheidenden Forschungs– und Produktionseinheiten des Landes bei der CGE zu konzentrieren. Nachdem die Betriebsführung sich nach anfänglicher Zurückhaltung dann auch von überflüssigen Mitarbeitern zu trennen vermochte, bestand in der Tat kein Grund mehr, die CGE in Staatsbesitz zu halten. So hatte auch der frühere Premierminister Fabius bereits private Beteiligungen an den Staatsbetrieben zugelassen. Der heutige Finanzminister Balladur, selbst einstiger CGE– Direktor, führt diese Politik nur verstärkt fort. Damit fand die linke Industriepolitik ihre Erfüllung in den Privatisierungen Chiracs. Ob dies ein Zeichen für ihren Erfolg ist, sei dahingestellt. Es scheint eher, daß die Zeiten vorbei sind, in denen der Staat mit großen zentralen Unternehmenseinheiten Strukturpolitik machen kann.