Kinderschutz zum Billigtarif?

■ Ärzte preschen mit neuen Modellen vor / Neue Einnahmequelle bei anhaltendem Geburtenrückgang? / Heftige Kritik vom Kinderschutzbund / Das feministische „Wildwasser“–Projekt war unerwünscht

Von Charlotte Wiedemann

Bonn (taz)– Will das Bonner Familienministerium eine Wende in der Kinderschutzpolitik einleiten? Sollen die bisher erfolgreich arbeitenden Kinderschutz–Einrichtungen finanziell ausgetrocknet werden zugunsten einer entpolitisierten und von Ärzten dominierten Behandlung des verbreiteten Problems Kindesmißhandlung? Bereits die Einladungen zu der Fachtagung des Süssmuth–Ministeriums mit dem Thema „Gewalt in der Familie - alle sind gefordert“ hatte diese Befürchtungen geweckt: Dem Deutschen Kinderschutzbund wurde nicht, wie es das Nächstliegende gewesen wäre, ein Referentenstuhl angeboten, sondern nur eine kurzfristige Aufforderung zur Benen nung von Tagungsteilnehmern ins Haus geschickt. Die seit zwölf Jahren arbeitenden Kinderschutzzentren bekamen gar erst auf ausdrückliche Nachfrage eine Einladung. Daß die feministischen „Wildwasser“–Projekte, die sich um sexuell mißbrauchte Mädchen kümmern, nicht erwünscht waren, wunderte dann schon nicht mehr - und paßte zu der fast ausschließlich männlichen Besetzung des Podiums. Der Slogan „Helfen statt strafen“, den Ministerin Süssmuth zu Beginn ausgab, lieferte den Medien zwar eine griffige Formel, verdeckte aber eher die anstehenden Aufgaben der Kinderschutzpolitik. Abgesehen davon, daß sich heute niemand für Strafe statt Hilfe stark macht, besteht das Problem darin, daß die mißhandelnden Erwachsenen in der Regel we der für Strafe noch für Hilfe zur Verfügung stehen: Bei keinem anderen Delikt öffnet sich die Schere zwischen erfaßten Taten und der Dunkelziffer so weit wie bei der Mißhandlung von Kindern, erläuterte Dr. Baurmann vom Wiesbadener Bundeskriminalamt. Je nach Schätzung kommen auf eine registrierte Mißhandlung bis zu 750 verheimlichte Gewalttätigkeiten. Wie das Verschweigen und die Tabuisierung familiärer Gewalt aufgebrochen werden können und wie die betroffenen Familien überhaupt ermuntert werden können sich helfen zu lassen, ist das zentrale Problem des Kinderschutzes. Und hier scheiden sich die Geister und die Konzepte: Neuerdings machen sich Kinderärzte für die öffentliche Finanzierung sogenannter „vertrauensärztlicher Büros“ stark, Anlaufstellen für betroffene Eltern, wo neben Medizinern vor allem ehrenamtliche Kräfte für Erstkontakte zu Verfügung stehen, die Klienten dann allerdings an andere Stellen weiterverweisen müssen. Dieses Konzept baut auf den gesellschaftlichen Status des Arztes und seine Schweigepflicht, um damit Nachbarn und Angehörige zur Meldung vom Mißhandlungen im Bekanntenkreis zu veranlassen, also „Fremdmeldungen“ im Unterschied zu „Selbstmeldungen“ der Betroffenen. Professor Olbing von der Essener Uni–Klinik berichtete stolz, allein in Nordrhein– Westfalen seien bereits acht dieser Büros aufgebaut worden: „Ein Modell mit hoher Effektivität bei bescheidenen finanziellen Mitteln.“ Für Walter Wilken, Geschäftsführer des Kinderschutzbundes, grenzt diese Selbst–Werbung der Ärzte an Etikettenschwindel: „Hier wird eine Hilfe suggeriert, die gar nicht geleistet wird.“ Den Betroffenen nütze eine Anlaufstelle, die sie dann nur wieder weiterverweist, überhaupt nichts. Auch Tom Levold von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutzzentren hält die Ärzte– Büros für Augenwischerei, befürchtet aber, daß die Bundesregierung aus Kostengründen großes Interesse daran habe. Zwar wird ein verstärktes Engagement von Ärzten unter den Kinderschutz–Praktikern prinzipiell begrüßt, doch vermuten skeptische Insider, daß sich die Kinderärzte wegen des anhaltenden Geburtenrückgangs mit der Besetzung dieses Problemfelds vor allem eine neue Einnahmequelle erschließen wollen. Der Kinderschutzbund fordert dagegen die langfristige finanzielle Absicherung der bestehenden Kinderschutzeinrichtungen, wo aktuelle Krisenintervention und langfristige Familientherapie in einer Hand liegen. Wilken: „Diese bewährten Modelle müssen flächendeckend ausgebaut werden, vor allem auch in wirtschaftlich vernachlässigten Regionen, denn Gewalt kommt in sozial belasteten Familien besonders häufig vor.“ Auch das in Bonn breit vorgestellte Konzept von Selbsthilfegruppen mißhandelnder Eltern nach dem Vorbild der amerikanischen „parents anonymous“ sei kein „preisgünstiger Weg zum Kinderschutz“, sondern tauge nur bei intensiver fachlicher Begleitung. Bei Tagungsschluß vermied Ministerin Süssmuth Aussagen über die Linie künftiger staatlicher Förderungen. Familientherapeut Tom Levold: „Die Bereitschaft zu echten Hilfsprogrammen sehe ich bisher nicht.“