Meterhohe Stichflammen aus Kanaldeckeln

■ Auf einer bekannten „Todesstrecke“ fuhr ein Tanklastzug in eine Eisdiele / Stadtzentrum des nordhessischen Herborn bietet am Tag danach ein Bild totaler Zerstörung / Sperrung der Risikostrecke wäre problemlos möglich: Es gibt eine Umgehungsstraße und eine ungefährlichere Zufahrt

Von Reinhard Mohr

Herborn (taz) - Dienstag um halb neun war es noch ein schöner Sommerabend in Herborn, einem kleinen Städtchen in Nordhessen. In der Eisdiele an der Kreuzung Westerwaldstraße/Konrad Adenauer–Straße saßen viele Jugendliche und löffelten ihr Eis aus den Bechern. Die Pizzeria einen Stock höher war geschlossen. Um 20.45 Uhr fuhr ein Tanklastzug mit stark überhöhter Geschwindigkeit, von der Autobahn kommend, die abschüssige Westerwaldtstraße hinunter in den Ortskern von Herborn. In der Rechtskurve geriet er ins Rutschen, kippte um und prallte in die Eisdiele „Rialto“. Die Explosion zerstörte dieses und angrenzende Häuser sofort, andere - insgesamt zwölf - standen kurz danach wegen der hochbrennbaren Dämpfe von in die Kanalisation gelaufenen 36.000 Litern Benzin und Diesel in Flammen. Am Morgen danach bietet das Zentrum der nordhessischen Kleinstadt ein Bild totaler Zerstörung. „Unfaßbar, schrecklich, grauenvoll!“ - so beginnt der Artikel des Herborner Tageblatts, dessen Titelseite noch in der Nacht „umgeworfen“ wurde. Die ganze Nacht über waren die Herborner auf den Beinen, auch jene, die nicht direkt betroffen waren. Noch in weiter Entfernung war die Detonation zu spüren. „Als meine Frau und ich gerade Was bin ich im Fernsehen anguckten, wackelten plötzlich die Sessel“, erzählt ein älterer Bürger, der etwa 1.000 Meter von der Unglücksstelle entfernt wohnt. „Als ich aus dem Dachfenster schaute, sah ich schon die riesige Rauchwolke. Dann bin ich schnell hingelaufen und sah überall nur Flammenwände. Selbst aus den Kanaldeckeln kamen meterhohe Stichflammen.“ Ein Junge berichtet, wie er den Tanklastzug, dessen Bremsen offenbar versagt haben, auf sich zukommen sah und rechtzeitig vor der Explosion flüchten konnte. „Katastrohpennotstand“ in Herborn - das hat es in dem schmucken Städtchen, in dem letztes Jahr das folkloristische Großereignis „Hessentag“ stattfand, noch nie gegeben. So stehen auch noch am Mittwoch nachmittag die Schaulustigen zu Hunderten an den Absperrgittern von Polizei und Feuerwehr, während die Bergungsarbeiten auf Hochtouren laufen. Mit Baggern, einem Kran, Schaufeln und Preßlufthämmern werden die Trümmerberge abgetragen, um nach den Toten zu suchen. Die Bild–Zeitung wußte schon in der Nacht, daß es fünfzig seien. Bis zum Morgen aber wurde nur die Leiche einer achtzehnjährigen Frau gefunden. Von den umliegenden Dächern der Häuser, die nicht ganz ausgebrannt sind, beobachten Dutzende von herbeigeeilten Reportern die Bergungsarbeiten. Die Hotels der Stadt sind ausgebucht, die Berichterstatter haben sich „kriegsmäßig“ einquartiert - ein Hauch von Beirut. Auch Ministerpräsident Wallmann ließ es sich nicht nehmen, vor Ort nach dem Rechten zu schauen. Noch in der Nacht hatte er sich - trotz Urlaub - telefonisch unterrichten lassen. Nach einem Gang durch die Trümmerlandschaft gab er eine Pressekonferenz, auf der er seine „tiefe Erschütterung“ kundtat. Er lobte den „hervorragenden, auf opferungsvollen Einsatz der Rettungsmannschaften“ und versprach „rasche, unbürokratische Hilfe“ für die Betroffenen. Auf Fragen von Journalisten, ob denn nicht als Konsequenz aus dieser Katastrophe ein Durchfahrverbot für Schwerlastzüge, zumal solche mit hochgefährlicher Fracht, erlassen werden müßte, antwortete Wallmann in seiner unnachahmlichen Art omnipräsenter Nachdenklichkeit: Ja, man werde sich zusammensetzen und prüfen und dann gegebenenfalls „klare Konsequenzen“ aus den neuen Erkenntnissen ziehen. Was ist an Wallmanns Erkenntnissen neu? „Einfachste“ Lösung wäre doch: Empfindliche Einschränkung des individuellen Autoverkehrs, oder? d.s. „Da braucher net zu prüfe“, sagt mir ein älterer Mann auf der Hauptstraße, wo die Feuerwehr noch ständig Wasser in die Kanalisation pumpt, um die explosive Benzin–Wassermischung zu ver dünnen: „Da passiert dauernd was.“ Schon fünf– oder sechsmal habe er an derselben Kreuzung, die am Dienstag abend dem 47jährigen Tankzugfahrer Josef V. zum Verhängnis wurde, beobachtet, wie große Lkw, von der Autobahn Frankfurt–Dortmund kommend, die abschüssige Westerwaldstraße heruntergerast seien, die Rechtskurve nicht mehr „gekriegt“ hätten und in höchster Not geradeaus in die Hauptstraße weiterrollten - teils bis in die Fußgängerzone hinein. Der Beifahrer eines holländischen Schwerlastzuges, dem dies passiert sei, habe sich aus dem Fenster gelehnt und schreiend auf dem Bürgersteig spielende Kinder zum Weglaufen aufgefordert. Die Kinder konnten sich gerade noch retten, dem Beifahrer wurde beim Rammen eines Vordaches der Kopf abgeschlagen. Vor vier Jahren hatte an derselben Kreuzung ein Transporter mit einem Schaustellerwagen nicht rechtzeitig bremsen können und war auf mehrere Autos, die vor der roten Ampel standen, gerast: Damals gab es drei Tote. Als Konsequenz daraus wurden Hinweisschilder aufgestellt: „Achtung, abschüssige Strecke. Zurückschalten!“... Dabei könnte dieser Todesweg durch Herborn für Lkw ganz einfach gesperrt werden - es gibt eine neue Umgehungsstraße und eine vergleichsweise ungefährliche Zufahrt in den Stadtkern von Süden her. Doch bisher hat sich der Bürgermeister noch nicht durchsetzen können. Landrat und Landesregierung werden nun wohl aber unter erheblichen Prüfungsdruck stehen. Die Bilder erschöpfter Feuerwehrleute mit rußgeschwärzten Gesichtern, von zerborstenen Fensterscheiben und verkohlten Trümmerhaufen, die Erinnerung an das nächtliche, in Flammen stehende Flüßchen Dill und an in die Luft fliegende Kanaldeckel werden hängenbleiben, auch wenn in der Fußgängerzone schon wieder Eis geschleckt und mit den erlebten Schrecknissen da und dort geprahlt wurde. Während ich die letzten Zeilen schreibe, rückt das ZDF mit Starreportern und Wohnwagen an: „Flammendes Inferno in Herborn“.