Im Ruhrgebiet stirbt man schneller

■ Magenkrebs ist in Herne 50mal häufiger Todesursache als im Bundesgebiet / Bochumer Sozialmediziner sammeln und analysieren Sterbedaten / Essener Gesundheitsladen kritisiert die Statistikerfragestellung

Aus Bochum Corinna Kawaters

Daß das Ruhrgebiet nicht die gesündesten Umweltbedingungen hat, ist eine Binsenweisheit. Industriebetriebe, Altlasten, Autoabgase, Smog - das fällt jedem beim Stichwort Revier ein. Den Statistikern offensichtlich nicht. Ein Bochumer Forschungsinstitut legte Ende Mai im Rahmen eines Workshops einen Bericht vor, der die Gesundheitssituation der Region rein statistisch erfaßt und das Phänomen Krebssterblichkeit mit detailliertem Zahlenmaterial beleuchtet, ohne irgendwelche, sich geradezu aufdrängenden Beobachtungen zu berücksichtigen. Da heißt es beispielsweise: „In den Ruhrgebietsstädten Duisburg, Oberhausen, Hagen, Bottrop und Gelsenkirchen ist eine um ca. 20 Prozent erhöhte (Krebs–)Sterberate gegenüber den Vergleichszahlen des Bundesgebiets festzustellen. Die Lungenkrebs–Sterbehäufigkeit bei Männern ist in den Ruhrgebietsstädten zwischen 15 und 20 Prozent erhöht. Neben Städten mit Durchschnittswerten an der Sterbehäufigkeit an Magenkrebs finden sich in Duisburg, Oberhausen, Bottrop, Gelsenkirchen und Unna, sowie eine besonders auffällige Erhöhung um 50 Prozent in Herne.“ Soweit der Bericht des BOSOFO (Bochumer Sozialmedizinische Forschung), eines als gemeinnützig anerkannten Vereins. Unter der Leitung von Professor Dr. Viefhues, eines Sozialmediziners der Ruhr–Universität, führt BOSOFO wissenschaftliche Forschungsaufträge in privatem und öffentlichem Auftrag durch. Die Bochumer Sozialmediziner arbeiten eng mit „Idis“, einer sozialme dizinischen Informations– und Dokumentationsstelle in Bielefeld zusammen, die wiederum, als Einrichtung des Landes NRW, fachlich dem Gesundheitsministerium in Düsseldorf untersteht. Die Arbeitsschwerpunkte des BOSOFO liegen im wesentlichen in der Kosten–Nutzen–Abwägung gesundheitspolitischer Maßnahmen, unter Erfassung und Auswertung epidemiologischer Daten. Das heißt, mit Hilfe breitest erfaßter Daten - bei Idis auch die der Volkszählungsdaten von 1970 - wird nachgerechnet, wieviel Prozent der Bevölkerung an welcher Krankheit sterben. Nach dem „Warum“ wird zunächst mal nicht gefragt, denn der erschreckende Krebsbericht, den BOSOFO vorstellte, gilt für die Experten als „Aufreißer“, der weitere Forschungsaufträge nachziehen soll. „Auftraggeber solcher Studien können beispielsweise Kommunen sein“, führt Werner Spikofski, wissenschaftlicher Mitarbeiter des BOSOFO, aus. Doch auch für die Krankenkassen sind die Datensammlungen des Vereins interessant. Die AOK beispielsweise, deren „erhöhte Belastungen“ im Ruhrgebiet im Krebs– Bericht des BOSOFO ausdrücklich erwähnt werden, wird es sich nicht nehmen lassen, mit diesen Ergebnissen Politik zu machen. „Wenn einer was rauskriegen will, nimmt er sich die Daten, die er braucht“, erklärt Herr Sikofski die wissenschaftliche Vorgehensweise. Doch an dieser Herangehensweise erhebt sich Kritik. Erika Feyerabend, eine Mitarbeiterin des Essener Gesundheitsladens, in dem sich verschiedene Frauengruppen mit technologie– und medizinkritischen Fragestel lungen beschäftigen, faßt sie zusammen: „Warum epidemiologische, sogenannte objektive Daten sammeln? Die sind doch bekannt. Seit Hiroshima weiß man, daß Atom–Strahlung Krebs verursacht und die AKWs werden trotzdem weitergebaut. Leute, die aus anderen Gründen nichts ändern wollen, sind auch durch die beste Datensammlung nicht zu überzeugen.“ Das Interesse von Prof. Dr. Viefhues und seinem Sozialmediziner–Team jedoch liegt im Sammeln von Daten und darin, sich durch entsprechende Fragestellungen „Kundschaft“ zu besorgen, indem sie „interessierte Kreise auf Probleme stoßen“, wie Herr Sikofski ganz offen sagt. So hat BOSOFO die Krebssterblichkeit in 15 Städten des Ruhrgebiets mit einer sogenannten „kumulativen Mortalitätsrate“ erfaßt. Das ist „die Wahrscheinlichkeit im Laufe eines 75jährigen Lebens, an der bezeichneten Krankheit zu sterben, falls man zuvor nicht an einer anderen Krankheit gestorben ist“. Und diese Wahrscheinlichkeit liegt im Revier noch einige Punkte höher als in NRW, dessen Rate wiederum höher liegt als der BRD–Durchschnitt. In der Interpretation der Daten wird die Frage nach den lebensverkürzenden Umweltfaktoren rein rhetorisch gestellt. Zwar taucht gelegentlich die Frage auf, „welche Bedeutung belastende Faktoren der Arbeit haben“, doch viel genauer wird nach der individuellen Schuld gesucht. Die Tendenz wird besonders deutlich an einer von Idis hergestellten und von BOSOFO veröffentlichten Untersuchung über das Mammakarzinom (Gebärmutterkrebs). Alle in der Untersuchung erwähnten Risikofaktoren - zum Beispiel das Krebsrisiko „wächst mit zunehmendem Alter“ oder „ist für kinderlose Frauen größer“ oder „verringert sich bei Müttern, die ihre Kinder stillen“, oder „ist für Ledige größer als für Verheiratete“ - erwecken genau das Frauenbild, das seit der Wende in der Familienpolitik angesagt ist und individualisieren das Problem. So wirft natürlich der „seit 75 fallende Trend für die Altersgruppe 45 bis 55 Jahre“ für die Sozialmediziner nur die Frage auf, ob diese Frauen öfter zum Arzt gehen oder sonstwie sensibler für Gesundheitsfragen sind. Bei den Magenkrebstoten in Herne wird trotz aller Datensammelei nicht erfaßt, daß Herne seit langer Zeit in der Arbeitslosenstatistik ganz vorne liegt (Juni 87 auf Platz 2 mit 18,7 Prozent) und daß rund 15 Prozent der Herner Bevölkerung Sozialhilfe beziehen, also arm sind. Arme Leute müssen schlechte, billige Lebensmittel essen, in schlechten Wohungen wohnen, sich billig anziehen, können nicht teilhaben an den (Konsum–)Freuden der Restbevölkerung. Und das macht krank. Genauso wie das Leben auf einer Chemie–Altlast, wie sie zum Beispiel in der Herner Leibnizstraße entdeckt (und bis jetzt noch nicht entsorgt) wurde. Dazu meint Frau Feyerabend: „Wem nützt denn solche Forschung überhaupt? Die empfehlen nur individuelle Lösungen, weil es die große - Abschaffung der umweltschädlichen Industriebetriebe - nicht gibt, und sorgen nur für eine Statistische Begründung für Maßnahmen, die sowieso schon geplant sind.“