Zurückgestutzt

■ Der Bundespräsident im Banne der Vergangenheit

Daß in der Beziehung beider Länder „ein neues Kapitel“ aufgeschlagen sei, daß man „nach vorne“ blicke - das sind Resümees in diplomatischer Sprache. Jedenfalls hat der Besuch gezeigt, daß die Gorbatschowsche Entspannungspolitik keineswegs automatisch zu einem herzlichen Klima zwischen der Bundesregierung und der Sowjetunion führen wird. Die Kritik des Generalsekretärs an dem Reden von der „offenen deutschen Frage“ steigerte sich bis zum Zweifel an der Vertragstreue der Deutschen. Jetzt schon zeigte sich aber, daß von Weizsäcker mit seiner Doppelrolle, den Good–will–Botschafter seiner Regierung und gleichzeitig Exponent einer neuen Ostpolitik zu spielen, die von dieser Regierung gar nicht (oder noch nicht) getragen wird, kaum klar gekommen ist. Diese Zweideutigkeit ließ sich nicht durch eine Mischung von Anstand, Zurückhaltung und visionären Formeln aufheben. Es sei denn: von Weizsäcker hätte eine moralische Position von Gewicht bezogen. Das tat er aber nicht. Angesichts der Stätten deutschen Genozids erwähnte er immer nur das eine: als „junger Soldat“ habe er da und dort „das Leid des Krieges“ erfahren. Tat er nichts sonst als Erfahrung zu gewinnen? Wochen vorher hatte von Weizsäcker erklärt, er werde kein Schuldbekenntnis ablegen. Diesen Programmpunkt hat er gewiß bewältigt. Insofern gehört es zu seinem Auftritt, daß ihm sein Amtskollege überraschend eine Liste von Kriegsverbrechern mit Auslieferungsbegehren in die Hand legte. Von Weizsäcker wuchs angesichts der kleinbürgerlichen Amoralität Kohls zur moralischen Instanz; er kehrt zurück, zur Kenntlichkeit entstellt: als ein Staatsoberhaupt mit begrenzter Amtsmoral. Klaus Hartung