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Erinnerung an einen Weggenossen

■ Der internationale Sartre–Kongreß vom 10. und 11. Juli in Frankfurt / Von Herbert Nagel

Die Aktualität von Jean–Paul Sartres existenzieller Psychoanalyse, Ethik und Ästhetik sowie seine Sozial– und Geschichtsphilosophie wurden in der Frankfurter Goethe–Universität diskutiert, um sein Werk vor dem Vergessen zu bewahren. Das schien kaum nötig zu sein, denn der Andrang der Besucher war größer als erwartet: Nahezu 600 Menschen standen vor verschlossenen Türen zur Podiumsdiskussion, weil der Saal überfüllt war. Auf Druck der Redner wurden sie schließlich doch noch eingelassen.

Der Einfall war gut, das Wetter war herrlich, und alle, alle, alle waren da (außer Cohn–Bendit, der meinte, es lohne sich nicht, aus Mallorca abzureisen), um an einer Podiumsdiskussion mit dem Thema „Zur Freiheit verurteilt“ teilzunehmen. Der Hausmeister des Volksbildungsheims, ein alter Theaterfuchs und Sartre–Kenner, empfing die ersten Gäste mit den Eingangsworten von Sartres „Bei geschlossenen Türen“, welches am 27. Mai 1944 im besetzten Paris seine Uraufführung hatte: „Da wären wir also“, sagte er. „Da wären wir also“, erwiderten die ersten Gäste, zwei Studienräte, die früher mal verschiedenen Fraktionen angehört hatten, der eine dem „Revolutionären Kampf“ und der andere dem „Kommunistischen Bund Westdeutschland“. „So ist das“, lächelte der Hausmeister und schloß hinter ihnen die Türen. Ein glänzender Einfall, wie gesagt. Draußen begannen sich die Schaulustigen, Diskussionsaspiranten, Sartre–Liebhaber und -haberinnen, Immen und Haber zu stauen, alles Ehemalige - Trotz kisten, Spontis, Opel–Arbeiter und Minister, sie stauten sich und staunten - es war alles da, auch die Wut und das Ekel, das alte Ekel, guck dir doch mal das alte Ekel an „Hallo!“, und die Polizei war auch da, wie früher, in mehreren Mannschaftswagen. Im Gegensatz zu früher allerdings bei eher geschlossenen Türen. „Die Eingeschlossenen“, sagte ein Reporter der Abendpost Nachtausgabe, „Zur Freiheit verurteilt“, entgegnete der Polizeikommandeur und zeigte zwei Reihen tadelloser Zähne. Früher einmal war auch er schwarz angezogen, Alt– Existentialist, auch seine Zähne hatten damals Neigung zu dieser Farbe gezeigt. „Tote ohne Begräbnis“, zitierte der Mann mit der Schlüsselgewalt. „Das Spiel ist aus!“ rief Alice Schwarzer, inzwischen war allerdings eine Stunde vergangen, alle hatten einander gesehen, die Hand geschüttelt, den Kopf geschüttelt, „Wo sind wir denn“, wo sind wir denn wieder? Na, in Frankfurt, selbstverständlich. Was zu laufen hatte, war gelaufen. Irgendjemand muß dann wohl auf den Gedanken ge kommen sein, die Podiumsdiskussion über Sartre trotzdem noch durchzuhalten. Ein Fehler! Da konnte nichts mehr kommen. „Wo bist Du?“, hatte der in einfaches, aber teures Leinen gekleidete Professor gerufen, der sich vor der Treppe hinauf zur Aula im Kreise drehte. Er sucht sein Kind oder seine Frau, hätte man meinen können. Falsch! Er war, ohne es selbst zu wissen, wie einer der tanzenden Derwische von der Offenbarung überkommen. Vielleicht hatte er wirklich nur sein Balg gerufen, tatsächlich war Jean Paul gemeint. „Wo bist Du?“ Jean Saul Partre hatte ihn sein Freund Boris Vian in „Der Schaum der Tage“ genannt. Weder Jean Saul noch Jean Paul waren anwesend auf diesem Kongreß, zumindest nicht an diesem Tag. Eine Heimstatt wolle man Sartre geben, eine neue Bleibe, so tönte es, weil die blöden Franzosen ihn nicht mehr lesen. Auch in Frankfurt habe man das lange nicht mehr getan. Das solle, müsse, werde nun alles, alles anders werden. Warum eigentlich? Warum eigentlich Sartre, und warum eigentlich Frankfurt und nicht Hamburg oder Berlin? Ganz einfach, weil in Frankfurt seit eh und je die Rettung der Menschheit sitzt, hockt, besser kauert, zurückgezogen, wie Horkheimer einst sagte (die Wahrheit), und auf die Praxis lauert. Es ging also wieder einmal um die Rettung des Nicht–Identischen und der Dialektik und darum, die Möglichkeit für die Bedingung der Praxis theoretisch vor Augen zu führen. Also dazu hatte Sartre zu dienen. Die Alfred Schmidt–Allergie Im Allgemeinen nenne ich eine robuste Gesundheit mein eigen, bin von eher schlichter Denkungsart und liebe das Rustikale, aber heute wie vor zwanzig Jahren werde ich seelisch im Innersten und körperlich leidenschaftlich ergriffen, gebeutelt und gefährdet, wenn ich so unvorsichtig bin, Alfred Schmidt zuzuhören. Da packt mich der Schüttelfrost; zwischen Lächelkrämpfen und Wütelanfällen hin– und hergezerrt, verfalle ich in eine schreckliche Körper– und Geistesstarre, die allerdings in Frankfurt nicht wenig verbreitet ist, wie mir mein Analytiker bestätigte, der sie als Alfred Schmidt–Allergie diagnostizierte. Leider ist er nach Paris gezogen, was Alfred Schmidt versäumte, worüber wiederum Claude Levi–Strauss glücklich sein kann. Kurz: Der Mensch als das reale Subjekt der Praxis wurde wieder einmal gerettet. Die Theoriebildung blieb an die 1. Person gebunden. Die Frage nach der konstitutiven Rolle von Macht und Gewalt in der Hervorbringung von Intersubjektivität fiel der Rettung eines Individuums zum Opfer, dessen Prothesen inzwischen lauter klappern als mein Zahnersatz. Das ganze erinnerte aufs Lächerlichste an die Diskussionen der zwanziger Jahre, als man im Verdrängten des Unbewußten den Garanten für die unausbleibliche Notwendigkeit der Revolution zu finden trachtete. Hätte es nicht die Sachkenntnis des Sartre–Herausgebers und -Übersetzers gegeben, eine zweite Vortragsreihe über Sartres Ästhetik in einem anderen Saal und Gadamers abendliche Rede über das Sein und das Nichts, dann wäre nichts gewesen.

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