I N T E R V I E W „China wird Kohls Tibetreise nutzen“

■ Lodi G. Gyari, Bildungsminister im Kabinett der tibetischen Exilregierung unter dem Dalai Lama, befürchtet, daß mit der Reise des Bundeskanzlers nach Tibet die illegale Okkupation seines Landes durch China offiziell akzeptiert wird

taz: Wie beurteilen Sie die Reise des Bundeskanzlers nach China und Tibet? Lodi G. Gyari: Wir sind sicher, daß die chinesische Regierung die Präsenz des Kanzlers zu ihrem Vorteil nutzen wird. Sie wird versuchen, ihre Herrschaft über Tibet damit zu legitimieren und ihre Politik in Tibet zu rechtfertigen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit der Kanzler in der Lage sein wird, sich der Vereinnahmung durch die Chinesen zu widersetzen. Uns ist klar, daß er ausschließlich handverlesene Leute treffen wird, Funktionäre auf den Lohnlisten Pekings, vielleicht auch einige Tibeter in exponierter Position, aber stets in Anwesenheit von chinesischen Regierungsangestellten. Es gibt einen Punkt, der uns Angst und Sorge bereitet: ein Schreiben von Herrn Teltschik aus dem Bundeskanzleramt an eine Tageszeitung (General– Anzeiger Bonn). Darin benutzt er die Formulierung „30 Jahre nach seiner (Tibets) faktischen Wiedereingliederung“. Hätte er nur „Eingliederung“ gesagt, dann wäre das eben seine Meinung gewesen. Das kann alles bedeuten. Selbst wir akzeptieren das in der Bedeutung des Begriffs „Okkupation“. Aber dieses Wort „Wiedereingliederung“: Was meint Herr Teltschik damit? Will er sagen, so wie es die Chinesen tun, daß die Einheit Tibets mit dem großen Mutterland wiederhergestellt worden sei, dann ist er die erste Persönlichkeit außerhalb der Volksrepublik China, der diese Sicht unterschreibt, nach der Chinas illegale Annektion Tibets eine Wiedereingliederung gewesen sei. Wenn er meint, was er sagt, würde Deutschland in eine Position hineingezogen, die Chinas illegale Okkupation Tibets gutheißt. Wir haben mit Freude zur Kenntnis genommen, daß im Bundestag die Tibet– Frage aufgeworfen wurde. Die Antworten der Bundesregierung spiegelt aber sehr stark die Propagandalinie der Regierung in Peking wider. Ich habe das Gefühl, als habe das Auswärtige Amt einige Antworten aus der chinesischen Botschaft erhalten und später im Parlament vorgetragen. Welche Auswirkungen hat die Liberalisierung seit Ende der siebziger Jahre für Tibet gebracht? Wir glauben, daß die chinesische Regierung, nachdem sie kritisch ihre Politik in Tibet überprüft hat, feststellte, daß die Politik der brutalen Unterdrückung ein Mißerfolg war. Immerhin hat sie 1,2 Mio. Tibeter das Leben gekostet. Heute wird Tibet überschwemmt von Chinesen. Ziel ist, die Tibeter zu einer Minderheit in ihrem eigenen Land zu machen. Wenn die Besiedlungspraxis unvermindert so weitergeht, dann wird die Tibet– Frage eines Tages nur noch von akademischem Belang sein. Aber der Hauptaspekt der chinesischen Herrschaft, die Kolonisierung, ist schwer zu beschreiben. Stellen Sie sich vor: im eigenen Land als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden; als minderwertig zu gelten, wenn Sie ihre eigene Sprache sprechen. Die Chinesen erzählten der Welt, daß sie Religionsfreiheit in Tibet gewähren. In Wirklichkeit wollen sie oberflächliches rituelles Gehabe wiederbeleben. Die Exilregierung in Dharamsala wird von keinem Land und keiner Regierung der Erde anerkannt. Woher bezieht Ihre Regierung ihre Legitimation? Wir glauben, daß die wichtigste Legitimierung einer Regierung von der eigenen Bevölkerung kommt. Darüber hinaus stellt die Regierung die Fortführung jener Regierung dar, die 1959 in Lhasa amtierte. Diese Regierung mußte fliehen und sich in Indien niederlassen. Natürlich wären wir gerne anerkannt, aber darin liegt nicht unser Hauptbemühen. Wir wissen, daß wir uns zu Recht die Regierung Tibets nennen, weil wir das Recht auf unserer Seite haben. Nach internationalem Recht ist Tibet heute ein unabhängiges Land unter einer gewalttätigen militärischen Okkupation, das kann nicht bezweifelt werden. Das Gespräch führte Ulrich Stewen