„Coming–out“ der Antisemiten

■ Anpöbelungen gegen Juden werden immer häufiger / Aus Wien Marta Halpert und Reinhard Engel

Ruhig bleiben und abwarten oder offensiv werden? Vor dieser Frage stehen Österreichs Juden angesichts des wachsenden Antisemitismus. Die Jüdische Kultusgemeinde zu Wien geht zunehmend in die Öffentlichkeit. Aber auch aus den Reihen der Konservativen kommen immer deutlichere Worte. Offener Judenhaß wird seit Waldheims Kandidatur hoffähig. Auch Proteste und Solidarisierungsaktionen veranlassen nur halbherzige Abschwächungen antisemitischer Äußerungen.

„Das politische Klima in Österreich hat sich im Laufe der letzten Monate zunehmend aufgeheizt und zu einer deutlichen Polarisierung der Gesellschaft geführt“, begann der Aufruf, am ersten „Bürgerparlament“ teilzunehmen, das je auf Initiative der Jüdischen Gemeinde stattgefunden hatte. Der 24köpfige Kultusvorstand (er repräsentiert Mitglieder vom religiösen orthodoxen Spektrum bis hin zum sozialistischen „Bund werktätiger Juden“) wollte den zutiefst Betroffenen offene Gelegenheit geben, sowohl ihr Herz auszuschütten, als auch konkrete Vorschläge zur zukünftigen Vorgangsweise der israelischen Kultusgemeinde zu machen. Etwa 200 waren gekommen. Paul Grosz, seit vier Monaten Präsident der Kultusgemeinde, berichtete, er habe in einem Brief an 36 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens seiner Besorgnis über die jüngsten Entwicklungen Ausdruck verliehen. Zu den Empfängern gehörten sowohl Politiker als auch Vertreter der Kirche und der Medien. „Viele haben geantwortet und mir ihre Anteilnahme zugesichert. Aber kaum einer machte konkrete Vorschläge“, so Grosz. „Einige fragten mich sogar, ob denn die Veröffentlichung dieser antijüdischen Ausschreitungen nicht kontraproduktiv sei. Ich kann nur sagen: Die Politiker kennen ihre Wähler nicht.“ Anonyme Schmähschriften Als Beispiel führte Grosz die Welle antisemitischer Briefe an die Gemeinde an. Diese erreichte unmittelbar nach dem Papst–Besuch Waldheims ihren Höhepunkt. Täglich trafen ordinär–rassistische Schmähschriften ein, durchweg anonym. Nur jede zehnte Zuschrift war verständnisvoll. Gleich nachdem Grosz in den Medien über die Beschimpfungen und Anpöbelungen berichtet hatte, erhielt die Gemeinde eine Flut von solidarisierenden Zuschriften, gezeichnet mit vollem Namen und mit Adresse. Die Schreiber brachten Scham und Entrüstung über die Vorfälle zum Ausdruck. Plötzlich standen einem negativen vier positive gegenüber. Die etwa 8.000 Mitglieder zählende Jüdische Gemeinde von Wien (im Vergleich dazu lebten vor 1938 180.000 Juden in Österreich) lernte nicht erst in den letzten Wochen das Fürchten. Es stimmt wohl, daß Anpöbelungen auf offener Straße und aggressive, anonyme Drohanrufe Ende Juni 1987 ihren Höhepunkt erreichten, nach der jüdischen Kritik am Vatikan–Besuch Kurt Waldheims. Der verbalisierte Antisemitismus ist aber schon seit längerem wieder salonfähig, nämlich seit seiner Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten. Seelische Zäsur Die Ereignisse rund um diese Wahl waren es auch, die die kleine aber gar nicht homogene Jüdische Gemeinde aus ihrer Alltagsidylle brutal herausriß. Nicht daß alle der Illusion anhingen, es gebe etwa nach Auschwitz weder Antisemiten noch Antisemitismus in Österreich. Man hatte sich aber wieder einmal arrangiert und geglaubt, integriert hieße akzeptiert. Die Erfahrungen der letzten eineinhalb Jahre haben tiefe Wunden in die kaum verheilten Narben gerissen - vor allem bei der Generation, die die Schrecken der NS– Zeit überlebt hat. Aber auch die Jüngeren, die nach 1945 hier geboren wurden, haben eine selische Zäsur mit dieser noch nicht ausgestandenen Krise erfahren. Beruflich und sozial eingegliedert glaubten sie, genauso wie ihre Eltern vor bald 50 Jahren, daß sie hier nicht nur erwünscht, sondern auch beheima tet wären. Die Erzählungen der Eltern über die NS–Zeit waren schauderhaft, aber eine Wiederholung schien völlig undenkbar. Sie wollten und konnten ihr Leben im freien, demokratischen Österreich genießen. Der Schock ist daher für diese Gruppe unvergleichbar größer, ihre Reaktion auch schärfer. Bereits zu Beginn der Waldheim–Affäre war der Generationskonflikt innerhalb der Gemeindevertretung nicht zu übersehen. Während die zum Teil parteipolitisch engagierten Väter für Abwarten und Leisetreten plädierten, rannten die Söhne gegen die Haltung an und veranstalteten eine Palastrevolution gegen die „Beschwichtigungshofräte“. „Nur mit selbstbewußtem Auftreten kann man sich Respekt verschaffen. Wir werden nicht nur den Anfängen wehren, sondern uns überhaupt zur Wehr setzen“, meinten Vertreter der jungen Generation. Aufforderung an die Justiz Die Teilnehmer am „Bürgerparlament“ waren dann jedoch eher traurig als aggressiv. Eine Resolution, die fünfte innerhalb von zwölf Monaten, rief erneut zum Kampf gegen den Antisemitismus auf. Die Justiz wurde aufgefordert, gesetzliche Voraussetzungen zu schaffen, die judenfeindliche Hetze verfolgbar machen. Schul– und Religionsunterricht sollten in der Erziehung entsprechende Maßnahmen setzen, und als letztes wurden die Medien auf ihre Verantwortlichkeit für die tendenziöse Berichterstattung des letzten Jahres hingewiesen. Noch ist die Gemeinde weit davon entfernt, mit einer Stimme zu sprechen. Aber der Druck von Außen hat das Zusammenrücken zum Gebot der Stunde gemacht. Marta Halpert