Preiserhöhungen treffen Ungarns Arbeiter

■ Der Wegfall der Subventionen für Grundnahrungsmittel führt zu Unmut bei Ungarns Arbeitern / Das Regime reagiert mit einer offenen Pressepolitik und stärkerer Polizeipräsenz / Die Opposition hat die „sozialen Kosten“ der Wirtschaftsreform unterschätzt

Aus Budapest H. Hofwiler

Geschickter hätte der Zeitpunkt für die Preiserhöhungen von über 100 Waren des täglichen Bedarfs kaum gewählt werden können: Auch in Ungarn ist Ferienzeit. In Budapest tummeln sich vor allem ausländische Touristen, die Stadtbewohner sind aufs Land gefahren, erholen sich am Plattensee oder sind gar ins westliche Ausland gereist - in diesem Sommer sollen es mehr als 100.000 sein. Und auch viele der Hiergebliebenen drehen Däumchen: Wegen der großen Hitze kam es im Industriegürtel der Stadt zu Produktionseinstellungen. Da auch die meisten Zeitungen der Hauptstadt am Montag nicht erscheinen, erfuhren die meisten Budapester erst beim üblichen Morgentrunk, was sonntags von der Regierung bekanntgegeben wurde. Mit den Preiserhöhungen von um die 20 Prozent werden die Ungarn künftig den Gürtel enger schnallen müssen. In den Stammkneipen der Arbeiter wurde geschimpft und geflucht. „Was müssen wir uns eigentlich noch bieten lassen, erst vor drei Monaten sind die Preise um zehn Prozent gestiegen. Lohnerhöhungen aber gab es keine“, beklagt sich einer, dessen Frühschicht ausgefallen war. Auch die Waren würden schlechter. Die vielgerühmte ungarische Salami enthalte mehr und mehr Fett, Zigaretten hätten immer gröberen Tabak und der Rum sei so verpanscht, daß man nach ein paar Gläsern unweigerlich Kopfschmerzen bekomme. Immerhin, die Geschäftsauslagen sind voll wie eh und je, auch in diesem Jahr finden sich an den Marktständen saftige Pfirsiche, von denen Tschechen und DDR– Bürger nur träumen können. Aber der ungarischen Hausfrau fehlt das nötige Kleingeld, um ein Kilogramm zum Preis von drei Stundenlöhnen nach Hause zu bringen. Nach dieser neuen Preiserhöhung denkt sie sich wohl das gleiche wie jener private Taxifahrer, dessen Portemonnaie trotz Nachtfahrten ständig schrumpft, da er zum Beispiel für Spritauslagen mittlerweile ein Drittel mehr berappen muß. Warum noch schuften gehen? Der Geldwertverfall hat für osteuropäische Verhältnisse katastrophale Ausmaße angenommen und das Gefälle zwischen arm und reich eine Gesellschaftskluft wie zur kapitalistischen Vorkriegszeit geschaffen. Noch geht es den Magyaren besser als manch anderen „Ostlern“, aber jeder weiß, wie teuer der Lebensstandard verdient wird: Die Ungarn schuften in ihren Zweitjobs bis spät in die Nacht, machen Überstunden, die selbst den „fleißigen“ Ostdeutschen zuviel wären. Jetzt stellt man sich die Frage, ob das Abrackern sich noch lohnt, Enttäuschung und Wut machen sich breit. „Streiken ist angesagt.“ So deutlich stand es nicht etwa in einer Untergrundzeitschrift der demokratischen Opposition nachzulesen, die hätte sich das verkniffen (und darin unterscheiden sich die reformistischen Oppositionellen Ungarns von denen Polens), sondern, man höre und staune, im Parteiorgan des Zentralkomitees Nepszabadsag vom 6. Juli. Und die Partei heizt die Reformdiskussion noch weiter an: So „schämte“ sich kürzlich ein kommunistisches Massenblatt nicht, die Versäumnisse der Partei in einem Vergleich offenzulegen: Finnland und Ungarn hätten sich in den 30er Jahren in einer ähnlichen Situation befunden, der Weltkrieg habe beiden Ländern gleich zugesetzt, doch das lange Zeit sozialdemokratisch regierte Finnland habe einen fünfmal höheren Lebensstandard als die von Kommunisten regierten Ungarn. Ein Oppositioneller selbstkritisch: „Wir haben uns um die Arbeiterschaft nicht gekümmert, uns war die Reformdiskussion wichtiger als gesellschaftspolitische Arbeit. Wir lebten in einer geistigen Enklave und merkten nicht, daß die Wirtschaftsreform auch soziale Konsequenzen hat. Seit Mo naten wird kein Intellektueller belangt. Dagegen ist jetzt jede der 25 Metrostationen Budapests in eine Polizeistation umgewandelt worden. Die offizielle Begründung, an die niemand glaubt und in der rassistische Ressentiments zum Vorschein kommen: obdachlose Roma gefährdeten zusehens die öffentliche Sicherheit. Deutlich zu spüren bekommt man die Polizeipräsenz in der Gegend des Blaha Luiza Platzes, 1956 eines der Zentren der aufständischen Arbeiter, heute Treff der Hehler, Prostituierten und Unterweltler. Letzte Woche gab es hier einige Razzien, und unter Jugoslawischen Schmugglern hat sich herumgesprochen, daß die für billige Hehlerware traditionell gut geeigneten Arbeitervorstadtsiedlungen gefährlich geworden sind. Es wimmle dort seit neuestem von Streifen in Zivil. Während das Regime die öffentliche Diskussion zuläßt, scheint es sich auch mit polizeilichen Mitteln auf die kommende Auseinandersetzung vorzubereiten.