Keine neuen Radikal–Prozesse

■ Eröffnung des Hauptverfahrens wegen Verbreitung der Zeitschrift Radikal in 15 Fällen abgelehnt / Inhaber von Buchläden dürfen jetzt auch Publikationen verkaufen, die sie nicht gelesen haben!

Aus Berlin Max Th. Mehr

Das Berliner Kammergericht hat, wie jetzt bekannt wurde, in den letzten zwei Monaten in allen 15 Fällen die Eröffnung eines Hauptverfahrens gegen Inhaber von Buchläden, Gaststätten und anderen Geschäften abgelehnt, denen die Verbreitung der Nummer 132 der Zeitschrift Radikal vorgeworfen wird. Die Staatsanwaltschaft hatte den Händlern in ihrer Anklageschrift Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen, öffentliche Aufforderung zu Straftaten und deren Billigung, sowie Verunglimpfung des Staates. Der 2. Strafsenat des Kammer gerichts argumentierte nun in seinem wegweisenden Einstellungsbeschluß, es gebe keine Beweise dafür, daß die bei Durchsuchungen beschlagnahmten „Radikal“ Exemplare in den Läden verkauft werden sollten. Nach Auffassung des Gerichts wäre den Ladeninhabern selbst bei Annahme einer Verkaufsabsicht nicht nachzuweisen, daß sie den Inhalt des Blattes kannten. In der Nummer 132 der Zeitschrift war unter anderem ein „Gruß“ an die Mörder des Siemens–Vorstandsmitglieds Beckurts und eine Anleitung zum Bau von Zeitzündern veröffentlicht worden. Im Beschluß des Kammergerichts hieß es auch, daß Inhaber von Buchläden nicht jedes Schriftstück vor dem Verkauf lesen würden. Auch der Name Radikal lasse noch nicht auf einen strafbaren Inhalt schließen. Mit einer Ausnahme hat die Staatsanwaltschaft inzwischen Beschwerde gegen die Einstellungsbeschlüsse beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe eingelegt. Dort liegt auch ein Revisionsantrag aus einem Verfahren in Hessen. Ein Handverkäufer der Radikal war dort wegen der selben Vorwürfe vor zwei Monaten von einem Oberlandesgericht zu neun Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden. Beteiligte der Berliner Verfahren halten es wegen der fast gegensätzlichen Beurteilung durchaus für möglich, daß der BGH die Entscheidungen des Kammergerichts auf Einstellung aufhebt. In Karlsruhe soll Mitte August darüber entschieden werden. Die ungewöhnlich milde Beurteilung des 2. Strafsenats beim Kammergericht bietet jetzt Raum für allerlei Spekulationen. Insider vermuten, daß der dortige Vorsitzende schlicht keine Lust hatte sich erneut mit der Radikal zu beschäftigen. Denn Richter Pahloff gelangte zu trauriger Berühmtheit: Vor drei Jahren verurteilte sein Senat im vielbeachteten großen Radikal–Prozeß die Journalisten Benny Härlin und Michael Klöckner zu zwei Jahren Gefängnis ohne Bewährung.