„Wenn ich spritze, sehe ich nichts!“

■ Der Prozeß um die Todesumstände des Demonstranten Sare wird voraussichtlich noch bis November dauern / Besatzungsmitglieder des WaWe 9 wollen nichts gesehen haben

Aus Frankfurt Heide Platen

Der Kommandant des Wasserwerfers 9, des „WaWe 9“, Reichert, schwieg auch am neunten und zehnten Verhandlungstag. Die 31. Große Strafkammer des Frankfurter Landgerichts muß bisher ohne seine Aussage klären, welche Schuld ihn und seinen Fahrer Hampl am Tod des 36jährigen Autoschlossers Günter Sare trifft. Sare war am Abend des 28. September 1985 im Frankfurter Arbeiterviertel Gallus vom WaWe 9 überrollt und getötet worden. Er hatte an einem Emigranten–Fest und anschließend an einer Kundgebung gegen die NPD teilgenommen. Die Polizei schützte damals eine Versammlung der Neo–Nazis, die die Demonstranten zu verhindern suchten. Die Staatsanwaltschaft ermittelte zunächst gegen die gesamte Wasserwerfer–Besatzung. Übrig blieb dann die Anklage gegen Reichert und Hampl wegen „fahrlässiger Tötung“. Während des Verfahrens beantragten die Vertreter der Nebenklage, die Rechtsanwälte Borowsky und Temming, die Anklage auf „vorsätzliche Tötung“ auszuweiten. Dem wurde nicht stattgegeben. Die Anwälte, die Mutter und Schwester des Getöteten vertreten, gehen davon aus, daß Fahrer und Kommandant Sare auf der Straße gesehen haben müssen und trotzdem weitergefahren sind. Anlaß zu dieser Annahme gab das Foto eines Amateurfotografen. Es zeigt einen Mann, der mit erhobenen Händen allein im Strahl eines oder mehrerer Wasserwerfer auf der Straße steht. Trotz des Sprühnebels und der Dunkelheit ist er im Licht der Straßenlaternen und Scheinwerfer gut erkennbar. Einige Zeugen sagten aus, sie hätten den Eindruck gehabt, der große WaWe 9 und der kleinere WaWe 4 hätten Sare regelrecht gejagt. „Da ist einer davor“ Auch aus Polizeikreisen war im Vorfeld des Prozesses zu hören, daß Reichert zu rüden Methoden neigt. Er habe vom Wasserwerfer aus Jagd auf einzelne Personen gemacht, sei manchmal abgesprungen und habe eigenhändig Leute arretiert. Ob er oder seine Kollegen von WaWe 4 tatsächlich in Wildwest–Manier gehandelt haben, ist in diesem Prozeß nicht zu erfahren. Fest steht wohl, daß Sare auf der Kreuzung Frankenallee/Hufnagelstraße umkam, nachdem der große WaWe 9 den kleinen WaWe 4 links überholt hatte. Zahlreiche Zeugen berichteten, sie hätten gesehen, wie der kleine Wasserwerfer seinen Strahl auf eine einzelne Person richtete, die dabei zu Fall kam. Der Mann habe sich dann aufgerichtet und sei vor dem WaWe 4 her geradeaus davongelaufen. Die vier Besatzungsmitglieder des WaWe 4 bestreiten das nicht. Sie haben den Mann laufen sehen. Der Beamte an der Spritzkanone, der Sare im Visier hatte, sagte aus, er habe sich über den Mann gewundert. Der sei mit einem Holzpfahl auf ihn zugelaufen: „Es ist selten, daß eine Per son alleine auf so ein Fahrzeug zugeht“. Eben deshalb habe er dem Mann nachgeschaut, als sein WaWe 4 abbog. Aus den Augenwinkeln habe er gesehen, wie der WaWe 9 vorrollte und der Mann gleichzeitig einen Haken in dessen Richtung schlug. Ob WaWe 9 den Mann auch bespritzt habe, weiß er nicht mehr. Er habe gleich gerufen: „Da ist einer davor!“ Andere Kollegen bestätigen diese Aussage ganz oder teilweise. Daß der Pfahl, mit dem Sare auf den Wasserwerfer losgegangen sein soll und den der Fahrer des WaWe 4 „eine Stunde später“ auf der Straße fand und „sicherstellte“, sich im Verfahren zu einem enormen Baumstamm auswächst, ist eine andere Sache. Dagegen will von der Besatzung des Todesfahrzeugs WaWe 9 keiner etwas gesehen haben. Das beteuern sie immer wieder - der Fahrer Hampl, die beiden „Werfer“ und der vor dem Einsatz zugestiegene Sanitäter. Nur Kommandant Reichert schweigt. „Wir haben wen erwischt“ Der Sanitäter Norbert H. erinnert sich allerdings, daß Kommandant Reichert seinem Fahrer plötzlich zugerufen hat: „Halt an!“ Und: „Wir haben wen erwischt!“ Warum er das getan habe, sagte der Zeuge, sei ihm unerklärlich. Den Zuruf hat auch Werfer Wolfgang S. gehört. Warum Reichert gerufen habe, wenn doch nichts zu bemerken gewesen sei, erklärt dieser Zeuge so: „Wahrscheinlich aus dem Gefühl heraus“. Er ist sicher, daß der Kommandant „selbst nicht wußte, warum er halten ließ“. Beide gaben an, sie hätten mit Reichert hinterher zwar über das Geschehen an sich, nicht aber über dieses Phänomen geredet. Beide sagten aus, das alles sei ihnen „schleierhaft“, „ein Rätselraten“ gewesen. Sanitäter H.: „Ich verstehe es bis heute nicht“. Auch Fahrer Hampl soll damals gesagt haben: „Das gibt es doch nicht. Ich habe nichts gesehen.“ Er hatte ausgesagt, der Kreuzungsbereich sei frei gewesen, nachdem WaWe 9 eine Steine und Flaschen werfende Demonstrantengruppe bespritzt habe. Der zweite Werfer erklärte dem Gericht kurz und knapp: „Wenn ich spritze, sehe ich überhaupt nichts - vor allem nachts“. Werfer S. schilderte, daß die Sicht nach jedem Wassereinsatz durch den Sprühnebel „für zehn bis zwanzig Sekunden“ behindert sei, bei Windstille dauere es noch etwas länger. Reichert hatte für sich selbst während einer Vernehmung im Oktober 1985 eine Erklärung parat. Er sei durch das Bedienen von Schaltern abgelenkt gewesen. Der Werfer, der nichts sieht, wenn er spritzt, teilte im Gerichtssaal mit, sein Vorgesetzter habe „schon immer Probleme mit den Knöpfen gehabt“. Kommandant Reichert ist seit 1982 Ausbilder für Wasserwerfer–Besatzungen. Nachfragen von Gericht und Nebenklage, wer denn was von welcher Stelle aus sehen kann beim Wasserwerferfahren, scheitern immer wieder an den durch das Innenministerium eingeschränkten Aussage–Genehmigungen der Polizisten. Richter Scheier hat angekündigt, er werde sich samt Prozeßbeteiligten selbst in den WaWe 9 setzen. Zwei Beweismittel fehlen bisher in dem Verfahren: eine Kamera und ein Tonbandgerät - im Wasserwerfer installiert - sollen zum Zeitpunkt des Einsatzes defekt gewesen sein. Unklar ist auch, warum der Wasserwerfer, der nach Polizeiangaben nur den Einsatzbefehl hatte, den Kreuzungsbereich zu räumen, weiter in Richtung Hufnagelstraße fuhr. Gezielte Jagd? Die Staatsanwaltschaft gibt sich in diesem Verfahren zurückhaltend bis desinteressiert, wofür sie sich bereits öffentliche Schelte eingehandelt hat: Gerade als ein Arzt aussagte, der als Hauptbelastungszeuge auftritt, überließ der Vertreter der Anklage einem Kollegen seinen Stuhl und rannte aus dem Saal. Der Arzt war während eines Abendspazierganges in die Auseinandersetzungen geraten. Er war einer der ersten, die dem schwerverletzten Günter Sare Hilfe leisteten, bevor er starb. Der Zeuge sagte aus, er habe den Eindruck gewonnen, die Wasserwerfer hätten Jagd auf Sare gemacht. Auch er berichtete - wie andere Helfer - er sei zuerst von einer Polizeikette daran gehindert worden, zu dem Verletzten zu kommen. Vorher habe er gesehen, wie Sare vor dem kleinen Wasserwerfer davongerannt sei. Dann sei plötzlich der WaWe 9 aufgetaucht und „mit unverhältnismäßig großer Geschwindigkeit“ in Richtung Hufnagelstraße hinter dem Flüchtenden hergefahren. Der Prozeß gegen Reichert und Hampl wird voraussichtlich bis November dauern. Inzwischen ist die dritte und letzte Ersatz–Laienrichterin berufen worden. Wenn auch sie ausfällt, platzt der Prozeß. Einer ihrer Vorgänger erkrankte, der andere mußte gehen, weil das Gericht einem Befangenheitsantrag der Verteidigung stattgab. Der Ersatz–Schöffe hatte, anders als Laienrichter sonst, ausgiebig von seinem Fragerecht Gebrauch gemacht. Dem Werfer S., der nach dem Ereignis einfach im WaWe 9 sitzen geblieben war, gab er mit auf den Weg: „Ich hoffe nur, daß Sie aussteigen, wenn Sie persönlich einen Autounfall haben“. Gehen mußte er, nachdem er deutlich hatte erkennen lassen, daß er die Aussage eines Demonstranten für wahr hielt. Er wunderte sich über „die gute Beobachtungsgabe“ und fand die von ihm gesuchte Erklärung darin, daß der junge Mann, wie er selbst, Motorradfahrer sei. Auf eine Nachfrage der Verteidigung, die vom Vorsitzenden Richter nicht beanstandet wurde, antwortete er: „Jawohl“, er halte die Zeugenaussage für zutreffend. In der vergangenen Woche entschied das Gericht: Der Laienrichter ist befangen. Als daraufhin die letzte Ersatz–Schöffin ihren Platz einnahm, entfuhr dem Gerichtsvorsitzenden ein Seufzer: „Hoffentlich passiert jetzt nichts mehr!“ Wenn auch sie ausfällt, platzt der Prozeß. S Z E N E K A L E N D E R