Die vielen Fluchten der Hediye Acur

■ Eine junge Türkin in Mülheim kämpft gegen die Abschiebung / Rechtlos zwischen deutschem Staat und türkischem Patriarchat / 16jährige Töchter ohne Paß gelten als Illegale / Jetzt ist Schwangere geduldet bis zur „Reisefähigkeit“ / Ihr Fall wurde zum Stadtgespräch

Von Corinna Kawaters

Bochum (taz) - Durch ihre bloße Anwesenheit gefährdet die 20jährige Türkin Hediye Acur die „innere Sicherheit dieses Staates in ganz erheblichem Maße“. Dieser Ansicht ist jedenfalls das Ordnungsamt in Mülheim an der Ruhr und erwirkte eine Ausweisungsverfügung gegen die derzeit hochschwangere Mutter eines Kleinkindes. Sobald ihr zweites Kind geboren ist und sie und das Neugeborene reisefähig sind, soll sie mit den beiden Kleinen in die Türkei abgeschoben werden. Hediye Acur war 1970 als Vierjährige in die BRD gekommen und hat ihr ganzes Leben hier verbracht, abgesehen von einem fünfmonatigen „Zwangsaufenthalt in der Türkei“, wie sie es nennt. Dorthin war sie mit knapp 16 Jahren von ihrem Vater gelockt worden. Der hatte vor, sie in der Türkei mit einem Landsmann zu verheiraten. Hediye wollte nicht und machte sich noch in der Hochzeitsnacht auf die Flucht - vor ihrer eigenen Familie, die sie seither verfolgt. Hediyes Bruder vernichtete den Paß der Mutter, auf dem Hediye als 15jähriges „Kind“ eingetragen war, um ihre Fluchtpläne zu vereiteln. Trotzdem versuchte sie, in Ankara und Istanbul eine Einreisegenehmigung für die Bundesrepublik zu bekommen. Als das nicht gelang, konnte sie einen Busfahrer überreden, sie ohne Papiere mit nach Deutschland zu schmuggeln. Ein Jahr lang lebte sie illegal mit der finanziellen Hilfe von Freunden und Bekannten. Sie fürchtete, sofort ausgewiesen zu werden, wenn sie mit ihrem Anliegen bei den Behörden erschienen wäre. Irgendwann wurde sie bei einem Ladendiebstahl erwischt und in Abschiebehaft genommen. Bei der Gerichtsverhandlung konnte sie noch einmal fliehen. Durch die Unterstützung eines deutschen Ehepaares, das sie als Haushaltshilfe beschäftigte, konnte sich Hediye eine Zeitlang über Wasser halten. Auf Anraten ihrer Freunde versuchte sie nach einiger Zeit, bei der Mülheimer Ausländerbehörde eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen und wurde sofort wieder in Abschiebehaft genommen. Durch die Intervention eines Rechtsanwaltes konnten ihre Freunde zwar eine Aufhebung der Haft erwirken, aber die Ausweisungsverfügung aufgrund ihres „Verstoßes gegen die melde– und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften“ behielten die Behörden bei. Hediye Acur ist inzwischen verheiratet und erwartet ihr zweites Kind. Sie lebt mit ihrem Ehemann bei dessen Eltern und, so betont der Mülheimer Flüchtlingsrat, der sich um ihren „Fall“ bemüht, „sie hat niemals die deutschen Sozialbehörden in Anspruch genommen“. Den Staat hat sie trotzdem schon einiges gekostet, und das ärgert Hans–Georg Bauernfeind vom Ordnungsamt Mülheim ganz besonders:“ Was die Frau schon an Verwaltungskosten verursacht hat, schreit zum Himmel.“ Für Annette Lostermann–de Nil von der Mülheimer Initiative gegen Ausländerfeindlichkeit hat dieser Fall klassische Dimensionen: „Hier zeigt sich, welche Machtmöglichkeiten unser Staat den türkischen Vätern gibt, die ihre Töchter im Zaum halten wollen. Wenn sie sie nicht zum Gehorsam zwingen können, nehmen sie ihnen jegliche Freiheit, indem sie sie in die Türkei schicken. Nach sechs Monaten im Ausland dürfen die Töchter nicht mehr in die BRD einreisen. Wenn die Eltern für die 16jährigen keinen Paß beantragen, resultieren daraus Schwierigkeiten mit den Ordnungsbehörden für die Töchter. Die Zeit zwischen dem 16. Geburtstag und der Beantragung des Passes und der Aufenthaltserlaubnis gilt als illegaler Aufenthalt“. In Mülheim ist der Fall Hediye Acur inzwischen Stadtgespräch geworden. Trotzdem bleibt das Ordnungsamt hart: Sobald sie reisefähig sind, sollen die Mutter und ihre beiden Kleinkinder aus der BRD weggeschickt werden.