Testmarkt Berlin: Konsumenten–Kohorten als Labor–Kaninchen

■ Werbebranche entpuppt sich als praktische Sozialwissenschaft / Die Forderung „Lern mich die Berliner kennen!“ erhält durch Marketing–Strategen präzise Auskünfte

Von Klaus–Helge Donath

Nach der Selbsternennung Berlins zur Kulturmetropole, Drehscheibe zwischen Ost und West und Wissenschaftsstadt, schmückt sie sich auch gern mit dem Titel „Nationaler Testmarkt“. Was verbirgt sich hinter einem Testmarkt? Vor bundesweiter Einführung eines neuen Produktes oder einer Produktvariante in Geschmack oder Verpackung neigen Hersteller, vor allem Markenartikler dazu, die Ware auf ihre Akzeptanz beim Verbraucher prüfen zu lassen. Verständlich, bedenkt man, daß eine umfassende Testreihe mit Werbung, Verkaufsförderung, Distribution, Handelseinführung und begleitender Forschung schon in einem kleinen Gebiet wie dem Saarland rund eine Million Mark kostet und selten weniger als zwölf Monate dauert. Ein idealer Testmarkt muß in seiner demographischen Zusammensetzung repräsentativ für das gesamte Bundesgebiet sein oder je nach Produkt und Testverfahren über ein hohes Zielgruppenpotential verfügen. Gute Möglichkeiten der Distribution sind unerläßlich, um Kunden schnell zufrieden zu stellen. Die Abgrenzbarkeit des Testgebietes soll gewährleistet sein, damit Einbußen durch hohe Streuverluste vermieden werden. Außerdem darf die Organisationsstruktur der jeweiligen Branche keine gravierenden Abweichungen zeigen, und die Verbraucher sollten nicht übertestet sein. Nicht zuletzt muß das Gebiet über ein komplettes, regional einsetzbares Media–Mix verfügen mit Tageszeitungen, Hörfunk, Fernsehen und Magazinen. Noch in den siebziger Jahren galt Berlin als ein idealer Ort. Ein umfangreiches Medienangebot, wenn auch nicht gerade unter dem Gesichtspunkt von Meinungsvielfalt, war gegeben. Die Mauer sorgte als „natürliche Grenze“ für ein abgeschlossenes Testgebiet, und die wenigen DDR–Rentner konnte man getrost als statistische „Ausreißer“ vernachlässigen. „Damals haben alle Markenartikler den Testmarkt ausgereizt“, so der Chef einer renommierten Werbeagentur am Ort. „Die Folge war, Konsumenten reagierten als Experten. Es wurde schwieriger, deren eigene Meinung zu erfahren, hatten sie einmal gemerkt, daß es sich um einen Test handelte.“ Der Fachjargon nennt dies „aquisition response“, die Neigung des Befragten, das zu antworten, was vermeintlich von ihm erwartet wird. „Der Vorteil der Insellage“, resümiert er, „wurde zum Nachteil. Anfang der Achtziger hatten wir Ergebnisse, die bei Markenartiklern reihenweise Katzenjammer auslösten.“ Hinzu kam noch der desolate innenpolitische Zustand Berlins zu jenem Zeitpunkt: „Ist ein Testmarkt nicht mit sich einverstanden, bringt er falsche Daten!“ Die tägliche Spalte in der Springerpresse „Berlin tut gut“ hätte da wieder einiges wettgemacht, allerdings nur zur internen Motivation. Für die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft „Markt–Info Berlin“ - Tageszeitungen, Werbefunk und Verkehrsreklame, alles Heimspiele - hat die Brauchbarkeit Berlins natürlich nichts an Bedeutung eingebüßt. Auch sie erkennen die Überalterung Berlins als den umstrittensten demographischen Faktor an. Der Anteil der über 65jährigen lag 1983 mit mehr als 21 um sechs Prozent höher als im Bundesdurchschnitt. Dem halten sie entgegen: Die für Markenartikler interessante Gruppe der 20– bis 49jährigen sei in relativer Übereinstimmung mit dem Bundesgebiet vertreten. Die schwächeren Abweichungen in der Gruppe der 45– bis 60jährigen stellten darüber hinaus bei Hochrechnungen kein Problem dar, da sich Marktforschungsergebnisse ohne weiteres auf diese Zielgruppe innerhalb des nationalen Marktes übertragen ließen. Da mag etwas dran sein. Zahlreiche Markenartikler scheinen jedoch tiefgreifende Bedenken zu haben. So wird der Ballungsraum Berlin, beim gleichnamigen Marktforschungsinstitut „Nielsen V“ genannt, kaum noch einmal im Jahr angefordert. „Die Gründe für die Hersteller sind sehr unterschiedlich“, meint eine Mitarbeiterin. Neben der abweichenden Altersstruktur schrecke viele die hohe Arbeitslosenquote, vor allem un ter den sonst kauffreudigen Jugendlichen. Nicht zu übersehen sei auch der starke Ausländeranteil in der Bevölkerung mit gänzlich anderen Konsumgewohnheiten, selbst die „Ur–Berliner“ zeigten ein anderes Verzehrgebaren: Die Ausgaben für Lebensmittel liegen über dem Bundesdurchschnitt, dem Alkohol wird kräftiger zugesprochen und unter den harten Sachen besonders dem Wodka. Beklagt wird generell das fehlende Engagement der Verantwortlichen in Berlin. Um Testmarkt zu bleiben, könne man einiges tun. Die Eignung wäre nur unter Beweis zu stellen. Immer mehr Kommunen profilieren sich in Zusammenarbeit mit Hochschulen durch zielgerichtete Studien. Trotz Katzenjammers und Vorbehalten sind namhafte Firmen aus der Tierfutter–, Zigaretten–, Genußmittel und Körperpflegebranche immer noch präsent. Eine exakte Ab– und Zunahme der Testmarkt–Aktivitäten läßt sich aus mehreren Gründen nicht ermitteln: Zentral werden die Daten nicht erfaßt, Unternehmen weisen ihre Versuche nicht aus, um sich Konkurrenz vom Leibe zu halten. Begreiflich auch bei einer Flop– Rate für neue Produkte von 60 bis 90 Manfred Holtfreter, Vorsitzender des „Markt–Info Berlin“, wünscht sich daher auch mehr Transparenz: „Es ist längst nicht immer bekannt, ob eine Anzeige Testmarkt–Aktivität ist“. Für den Inhaber einer relativ jungen, aber erfolgreichen Agentur scheint Berlin wieder an Attraktivität zu gewinnen. Zielgruppenorientiert ließe sich wieder sehr gut testen. Denn die Gruppe der konsumfreudigen Hedonisten und der technokratisch–liberalen Mittelschicht sei in Berlin besonders stark repräsentiert: „Wenn hier nichts geschieht, liegt es an der Verschlafenheit der Agentur– Szene und der offiziellen Förderung der falschen, längst satuierten Unternehmen“, räsoniert er selbstbewußt. So hätte die offizielle Wirtschaftsförderung die namhaftesten Agenturen aus Düsseldorf und Frankfurt nach Berlin geholt, in der Hoffnung, Gütezeichen würden ziehen. Der beschränkte Markt Berlins reagierte allerdings mit Turbulenzen, der Kuchen war schon verteilt, holen ließ sich nichts - außer der Berlinförderung. Folglich zogen sich einige Unternehmen auf ihre Stammsitze zurück. Dem dynamischen Jungunternehmer tut es leid um das viele Geld, das Berlin verlassen hat. Sein Konzept: „Erfolg durch Frechheit“ - und gemeint sind damit die kesser werdenden Werbespots und -slogans, vornehmlich der Werbebranche (“...bei Bolle kriegen Sie eine geschmiert“) - hat einigen Aufruhr unter den altfränkischen Werbemachern in der Bundesrepublik ausgelöst. Stolz gibt er zu verstehen: Selten hat ein Unternehmen aus Berlin bisher in der BRD Fuß fassen können. Dennoch, unser dynamischer Jungmanager will den hiesigen „kreativen Sumpf“ nutzbar machen und sich um den Rattenschwanz spezifischer Dienstleistungsbetriebe (Film, Casting, Design etc.) bemühen, der allmählich im Wachsen begriffen sei. Dann stünde der Vorreiterrolle Berlins auch auf diesem Gebiet nichts im Wege. Und diese Neurose teilen sich schließlich alle.