Madras - eine verdurstende Metropole

■ In jeder Trockenzeit wird für die arme Bevölkerung der südindischen Millionenstadt die Wassersuche zum harten Kampf / An den Zapfstellen gibt es eine Stunde täglich Wasser / Die Reichen lassen sich selbst das Wasser für die Autowäsche per Lastwagen kommen / Die Regierung bietet Improvisationen statt Lösungen

Aus Madras Biggi Wolf

Im morgendlichen Gewühl von Ochsenkarren, Fahrrad– und dreirädrigen Autorikschas bewegt sich langsam ein kleiner Demonstrationszug vorwärts. „Nieder mit der Regierung, die unfähig ist, den ausgetrockneten Kehlen des Volkes Trinkwasser zu verschaffen! Nieder mit der Regierung, die Arrakgeschäfte statt Wasserstellen öffnet!“ Die „Dravidische Fortschrittspartei“ (DMK), parlamentarische Opposition im südindischen Bundestaat Tamil Nadu, protestiert mit ihren Anhängern. Tatsächlich besitzen Ministerpräsident Ramachan und viele Abgeordnete seiner Partei lukrative Schnapsbrennereien und Alkoholläden. Doch ein Vorübergehender meint, die DMK, die jetzt demonstriere, habe früher als Regierungspartei auch nichts zuwege gebracht. „Das meiste Geld für Wasserprojekte verschwand in den Taschen der Politiker und Bürokraten“, schimpft er. Zwischen April und Juli stöhnen die 4,5 Millionen Einwohner von Madras unter Temperaturen bis zu 45 Grad, nachts kühlt es nie unter 27 Grad ab. Die armen Bevölkerungsschichten leiden in den Sommermonaten unter chronischem Wassermangel, je nach Stärke des vorausgegangenen Monsuns mal mehr, mal weniger. Die schlimmen Dürrejahre folgen in immer kürzeren Abständen, nach 1983 ist 1987 wieder ein besonders hartes Jahr. Ende Juni brannten in zwei Armenvierteln von Madras insgesamt 450 Hütten nieder, weil kein Wasser zum Löschen aufzutreiben war. Vier Menschen starben in den Flammen. Aus den 3.394 öffentlichen Wasserhähnen, von denen in Madras drei Millionen Slum– und Bürgersteigbewohner abhängen, fließt nur noch eine Stunde am Tag Wasser. Die Weltgesundheitsorganisation gibt als Mindestbedarf eines Städters 130 Liter Wasser pro Tag an, in Madras müssen die meisten mit einem 15–Liter–Krug (hier „Kudam“ genannt) auskommen. 95 Prozent des gesamten Wassers von Madras werden von nur fünf Prozent der Einwohner verbraucht. In den Armenvierteln bilden sich jede Nacht lange Schlangen von Frauen mit ihren Ton–, Plastik– oder Stahlkrügen vor den Zapfsäulen. Zwei–Drittel der weiblichen Bevölkerung von Madras wird so Nacht für Nacht um den Schlaf gebracht. In den Wohngegenden der oberen Klassen und Kasten wie dem Brahmanenviertel Mylapore oder in Nagar und Adayar, den in den letzten 15 Jahren entstandenen Siedlungen der neuen Mittelschicht im Süden der Stadt, sorgen riesige Tanks für 24 Stunden bestes Trinkwasser selbst zum Autowaschen. Geschäfte, reiche Privathäuser und Industrieunternehmen, die in ungünstigeren Gegenden liegen, werden durch Wasser– Lkws, die 10.000 Liter auf einmal anfahren, gespeist. 30 Privatunternehmen haben eine staatliche Lizenz, um in Thiruvanmiyur, zehn Kilometer vor den Toren der Stadt, hemmungslos die Grundwasserreserven auszubeuten. Inzwischen wird Halbegefrorenes, das aus 1.300 Metern Tiefe stammt, angegangen. Rund um die Uhr pumpen die Lkws das kostbare Naß in die Tanks der Fünf–Sterne–Hotels, damit im Foyer die kühlenden Springbrunnen plätschern. Kampf um einen Krug Wasser Rush Hour. An dem Vorortzug hängen die Menschen wie Trauben. Palavanthangal, die letzte Station vor dem Flughafen Meenambakkam. Das ehemalige Dorf ist von der schnellwachsenden Großstadt verschluckt, Hochhäuser sind hastig zwischen Lehmhütten hochgezogen worden. Heute leben etwa 100.000 Menschen hier, der größte Teil von ihnen ist auf die 25 öffentlichen Wasserstellen angewiesen. Am nächsten Morgen um sechs Uhr kämpfen 50 Frauen um jeden Krug Wasser, zerren sich an den Haaren oder den Saris. Die Hälfte des Wassers, das nur eine Stunde lang in einem dünnen Rinnsal fließt, geht dabei verloren. Obzönitäten wie „Du Schlampe gehst mit fremden Männern“ sind noch das mildeste, was im Streit hin– und herfliegt. Amma, die sich hier ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Trinkwasser verdient, wurde mit 14 Jahren verheiratet, mit 21 Witwe und muß vier Kinder allein durchbringen. „Nur die stärksten Frauen kriegen ihre Krüge voll, manche nehmen dann gleich vier oder fünf“, klagt die zierliche Frau. Aber warum kämpfen hier nur Frauen, wo doch die Männer genausoviel Wasser brauchen? „Dann würde es Tote geben“, lachen die Frauen, halb scherzhaft, halb im Ernst und entschuldigen damit die Bequemlichkeit der indischen Männer. Dürre auf dem Land Von 53.000 Siedlungen in Tamil Nadu - so melden die indischen Zeitungen - leiden in diesem Jahr 30.000 unter akutem Trinkwassermangel. 17 Millionen Menschen, ein Drittel der Gesamtbevölkerung des Bundesstaates. Die Fahrten über staubige Landstraßen, bei denen die Busfahrer aufs Gaspedal treten, als gäbe es kein Morgen, zeigen den desolaten Zustand. Kokospalmen lassen traurig ihre Wedel hängen, die Erde ist feuerrot und die versandeten Flußbetten sehen nicht so aus, als würden sie jemals wieder Wasser führen. Mindestens 63.000 Landarbeiter - so die vorsichtigen Schätzungen offizieller Stellen - sind in diesem Sommer arbeitslos geworden. Die Landwirtschaft und Berufszweige, die von ihr abhängen, sind in einigen Distrikten völlig zum Erliegen gekommen. Allerdings konnte die reduzierte Anbaufläche beim Reis durch Hochertragssorten ausgeglichen werden. Großbauern können sich die nötigen Pestizide, Düngemittel und starken Wasserpumpen leisten. Die Kleinen aber verkaufen mit dem Land auch das Vieh, dessen Futter sie nicht mehr bezahlen können. Wenn dann im August der Monsun einsetzt, haben Hunderttausende keine Existenzgrundlage mehr, wandern in die Städte ab und füllen die Bürgersteige von Salem, Trichy, Madurai und Madras. Die unkontrollierte Grundwasserausbeutung in den Städten führt zu einem weiteren Absinken des Grundwasserspiegels in den benachbarten Distrikten. Zudem sind die Bewässerungssysteme auf dem Land in schlechtem Zustand, die Auffangbecken für Regenwasser verschlammt. Chemiewerke und die große, hauptsächlich für den Export produzierende Lederindustrie, verseuchen hemmungslos das Grundwasser. Die großflächige Abholzung von Wäldern führt dazu, daß Regen wasser ungehindert abfließt und den fruchtbaren Boden mit sich zieht, der dann die Flußbetten immer flacher werden läßt. Überflutungen und Dürrekatastrophen wechseln sich ab. Überleben aus dem Container Statt Planung bietet die Regierung in Madras der Bevölkerung Improvisation an: 2.000 türkisblaue Stahlcontainer für je 4.000 Liter wurden in diesem Sommer in den ärmeren Vierteln der Metropole aufgestellt. Eine Flotte von Lastwagen ist rund um die Uhr unterwegs, um sie aufzufüllen. Einer dieser Container steht vor einem dreistöckigen Wohnblock an der Marina Beach, dem zentralen Abschnitt des kilometerbreiten Sandstrandes. Aus dem einzigen Wasserhahn des Blocks, der vor 20 Jahren für 3.000 Menschen gebaut worden ist, fließt nur während der Regenzeit Wasser. Den Rest des Jahres wird Wasser aus dem Container verkauft - pro Person zwei Krüge. „Junggesellenparadies“ heißt auch der dahinterliegende Stadtteil Triplicane im Volksmund, wegen seiner über hundert Männerpensionen. Morgens um sechs herrscht in einer dieser typischen „lodges“ schon volles Treiben. 50 Männer wohnen ständig in der Pension. Männer aller Altersstufen drängeln sich um zwei Handpumpen. „Madam“, nuschelt ein beleibter Herr um die 50 trotz Zahnbürste und Zungenreiniger im Mund höflich, „ich will Ihnen wohl gerne in allen Details über unser Wasserproblem berichten, aber warten Sie einen Moment, bis ich meinen Eimer voll habe, um sieben Uhr ist es vorbei mit dem Wasser.“ Nur aus einer der zwei Handpumpen kommt gereinigtes Wasser, mit der anderen Pumpe werden die letzten Zentimeter Brunnenwasser hochgeholt, die wegen ihres Salzgehaltes die „Haare mehr schmieren als waschen“, wie die Leute sagen. Andernorts werden deswegen illegale elektrische Pumpen angeschaltet, die das städtische Wasser, sobald es in die Hauptleitungen gedrückt wird, absaugen. Sollte sich tatsächlich mal ein Kontrolleur in einem der Häuser mit angeschlossener E– Pumpe sehen lassen, läßt er sich gewöhnlich mit einigen Rupies zum Schweigen bringen. Neelakanthan, der sich eines der neun Quadratmeter großen Zimmer in der Pension für 140 Rupies (25 DM) Monatsmiete mit einem Freund teilt, pumpt seine 20–Liter–Tagesration spät nachts aus dem Brunnen und hortet sie unter dem Bett. Daneben dümpeln in einem zweiten Eimer die letzten Überlebenden eines wegen Wassermangels aufgegebenen Aquariums. Mit ihren großen bunten Plastikeimern verschwinden die Männer vor Bürobeginn noch schnell auf der Toilette, wo man sich nach indischen Brauch nicht mit Papier, sondern mit der linken Hand und Wasser säubert. Die Gefahr einer Durchfallerkrankung bei so spärlich bemessener Ration ist nicht gering. Daran kann man sich überall in Madras auf Bürgersteigen überzeugen, denn neugebaute öffentliche Toiletten sind wegen des Wassermangels schon nach wenigen Tagen nicht mehr zu betreten. Auch Gelbsucht, Hautausschlag und Bindehautentzündungen, für die der Volksmund die Bezeichnung „Madras–Auge“ geprägt hat, steigen während der wasserarmen Monate an. Die Kanalisation ist für nur 600.000 Menschen ausgelegt, ein Achtel der heutigen Bevölkerung, die Abwässer werden in offene Kanäle geleitet. Entlang der Ufer dieser quer durch Madras stinkenden Gewässer, in denen Malaria– Mücken brüten, ziehen sich kilometerlang die Slums. Improvisation statt Planung 200 Mio. Liter Wasser werden täglich in Madras verbraucht, heute stammt schon mehr als die Hälfte aus Grundwasserreserven. Der Red–Hills–See, das letzte der drei Reservoirs, geht zur Neige. Wegen des rapide sinkenden Grundwasserspiegels sind in ganzen Stadtteilen die Handpumpen unbrauchbar geworden, die an bis 30 Meter tiefe Rohrbrunnen angeschlossen sind. Die Schlangen vor den Zapfstellen und Containern werden täglich länger. „Die Krüge sind hier, wo ist das Wasser?“, schreien etwa 1.000 Frauen auf der Mount Road, Madras Haupt–Einkaufsstraße. Viele sind in die schwarz–roten Parteifarben der Oppositions–Partei DMK gekleidet, auf dem Kopf tragen sie Tonkrüge. T.R. Balu, Abgeordneter im Bundesparlament von Neu–Delhi, marschiert mit einer dicken Blumengirlande um den Hals in der ersten Reihe des Demonstrationszuges. Umgerechnet 50 Mio. DM hat der in Madras regierende Ministerpräsident Ramadan schon für das Telugu Ganga Projekt ausgegeben, ohne dafür die Garantie zu haben, daß auch jemals nur ein Tropfen Wasser nach Madras kommt, kritisiert der Abgeordnete die Regierung. Das Kanalisierungsprojekt ist umstritten und mittlerweile mehr oder weniger zum Stillstand gekommen. Das in 400 km Entfernung vor Madras vorbeifließende Wasser des Krishna–Flusses sollte durch Kanäle in die Metropole geleitet werden, die durch weite Trockengebiete im Nachbarstaat Andra Pradesh führen. Den Leuten, die dort jetzt für einen Hungerlohn an den Kanälen arbeiten, sollte dann das Wasser vorenthalten werden. So legt der Streit zwischen den beiden Bundesstaaten heute den Kanalbau lahm. Die Rufe der Frauen werden lauter und schriller, als wir uns dem Hauptgebäude des staatlichen Wasserunternehmens „Metrowater“ nähern. „Hier habt ihr die Krüge“ - mit lautem Scheppern zerschmettern die Frauen Hunderte von Tonkrügen vor den Füßen schwitzender Polizisten, die mit einem quergestellten Bus den Eingang abgeriegelt haben. Je länger die Trockenheit andauert, desto häufiger kommt es in einigen Stadtteilen von Madras zu Mini–Aufständen in Gestalt von Straßenblockaden. Eilig schickt dann die Regierung mehrere Lkw– Ladungen Wasser, um die Gemüter abzukühlen. Ramesh, ein engagierter Linker, sieht darin das eigentlich Tragische: „Jeder Versuch einer dauerhaften Veränderung müßte damit beginnen, daß bereits im November/Dezember Slum–Komitees organisiert werden, wenn es noch Wasser gibt. Hat die Krise erstmal zugeschlagen, sind die Menschen mehr mit der Suche nach Wasser beschäftigt als mit dem Aufbau von Widerstand.“ Außerdem sei „Metrowater“, ursprünglich ein städtisches Unternehmen, jetzt der Landesregierung unterstellt, und seit 15 Jahren hätten keine Wahlen mehr für die Kontrollorgane der staatlichen Unternehmen stattgefunden. „Politischer Vetternwirtschaft und Korruption ist damit Tür und Tor geöffnet“, sagt Ramesh. Tatsächlich gibt es in bestimmten Straßen nur deshalb Wasser, weil ein Parlamentsabgeordneter dort wohnt. Die öffentlichen Hähne werden durch die Bürgersteigbewohner monopolisiert. Und neue Dammbauten, die von der Weltbank finanziell unterstützt werden, leiten das Wasser nur dahin, wo es auch jetzt schon hinfließt: In die Häuser derjenigen, die bezahlen können. „Die Weltbank sieht das unter einem kommerziellen Aspekt. Das gleiche, was schon beim Transportwesen passierte, wird sich demnächst mit dem Wasser abspielen. Die Preise werden erhöht, um die Defizite niedrig zu halten“, kommentiert Ramesh die zukünftigen Entwicklungen. Ministerpräsident Ramachan versucht derzeit, mit Technik zu blenden: Er schaffte ein speziell ausgerüstetes Flugzeug zum „Wolkensäen“ an - schon in den vergangenen Jahren ein 100prozentiger Mißerfolg ... Die hinduistische Dorfbevölkerung vertraut mehr auf religiöse Riten: Unter Feuerwerksknallen wurde jüngst ein prächtig geschmücktes Eselspaar im Tempel verheiratet, um die Regengötter gnädig zu stimmmen. Andernorts versuchte ein violinspielender Regenmacher - bis zum Bauch in einem Tempelbecken stehend - die Luft mit den nötigen Schwingungen zu füllen und ein Parlamentsabgeordneter wußte: „Die Stadt ist von einem bösen Geist besessen“.