99 Punkte für Gandhi

■ Zum Abkommen zwischen Indien und Sri Lanka

Würde man den Inhalt des indisch–srilankanischen Abkommens ohne Nennung der Vertragspartner präsentieren, kaum ein unbefangener Zuhörer würde das Machwerk nicht als 100prozentigen Knebelvertrag bezeichnen. Doch da die Lage in den tamilischen Gebieten Sri Lankas seit Jahren verfahren ist und Rajiv Gandhi ein allseits respektierter Staatsmann, drückt die Weltöffentlichkeit beide Augen zu und atmet auf: Ein Minderheitenkonflikt in der Dritten Welt weniger heißt auch weniger Flüchtlinge für die Industriestaaten. Kein Zweifel, das indisch–srilankanische Abkommen ist ein Sieg der Diplomatie Gandhis: Während seine Popularität in Indien aufgrund einer endlosen Kette von Korruptionsskandalen rapide sinkt, profiliert er sich außenpolitisch als Friedensstifter. Das Abkommen stärkt die sicherheitspolitischen Interessen Indiens als Exponent der Blockfreienbewegung gegenüber der unerwünschten militärischen Kooperation Sri Lankas mit Pakistan, Israel und den USA. Es ist für die militärisch stark geschwächten tamilischen Guerillagruppen die letzte Chance eines Abgangs ohne Gesichtsverlust, so schmerzlich sie der plötzliche Liebesentzug aus Delhi auch treffen mag. Für den alternden srilankanischen Präsidenten Jayewardene könnte die indische Lösung eine Möglichkeit sein, sich gegen die Hardliner unter den singhalesischen Politikern durchzusetzen. Er fürchtet, sonst als jener in die Annalen des Landes einzugehen, der die Teilung Sri Lankas besiegelt hat. Die Frage ist, ob und in wessen Interesse Indien seine neue Macht über den Nachbarn ausspielen wird. Nina Boschmann