Streikende VW–Arbeiter allein gelassen

■ Vierwöchiger Streik bei VW–Mexiko / Internationale Solidarität bleibt aus / Aus Mexiko Leo Gabriel

Als sich die Aktionäre des VW–Konzerns in Wolfsburg über die halbe Milliarde Devisenverlust erregten, besetzten zehntausend Arbeiter das Zweigwerk in Puebla. Sie forderten eine hundertprozentige Lohnerhöhung, der Konzern bot 15 Prozent Lohnkürzung. Die mexikanische Gewerkschaft ist isoliert, sie war aus dem Dachverband ausgeschert. Und nur zu dem unterhält die IG Metall Kontakte.

Im „Auditorium zum 1. Mai“, dem größten Verhandlungssaal im Arbeitsgericht von Mexiko– Stadt, eines der ersten nach dem Erdbeben wiederaufgebauten Gebäude, hat die Sitzung bereits begonnen. Den mexikanischen Journalisten, die hier zugelassen sind, bietet sich ein ungewohnter Anblick: Einer Gruppe von etwa 50, mit schwarzen Trainingsjacken und roten Streifen bekleideten braungesichtigen Arbeitern sitzen neben den beiden mexikanischen Rechtsanwälten auch fünf hochgewachsene blond– und grauhaarige Gestalten gegenüber, deren mausgraue Anzüge sich ebenfalls wie Uniformen ausnehmen. Über der ganzen Szene thront höchstpersönlich der Hausherr, Ge richtspräsident Miguel Angel Pino de la Rosa, der dieser sogenannten „Nationalen Versöhnungsjunta“ (Junta federal de cociliacion y arbitraje) seit weniger als einem Jahr vorsteht. Auch die allgemeine Erregung, die hier Platz gegriffen hat, bleibt dem Uneingeweihten zunächst einmal unverständlich: „Sie haben doch noch vor einer halben Stunde gesagt, daß sie von dem Wirtschaftsverfahren gegen uns Abstand nehmen, wenn wir in die Verhandlungen über die Lohnerhöhungen eintreten...“, bemerkt ein kleingewachsener Arbeiter in der ersten Reihe. Es ist der Generalsekretär der „Unabhängigen Gewerkschaft der Volkswagenarbeiter“ Facunda Ochoa. „Nein, das haben wir nie behauptet“, entgegnet der Rechtsvertreter des Unternehmens und fügt, zum Schiedsrichter gewandt, hinzu, „nicht wahr, Sie haben auch davon nichts gehört?“ Licenciado Pino de la Rosa schüttelt dann auch pflichtschuldig den Kopf, und die ganze Angelegenheit ist vorläufig abgetan. Das „Wirtschaftsverfahren“, von dem hier die Rede war, bezog sich auf die Position, die die Firma „Volkswagen S.A.“ Ende Juni eingenommen hatte, nachdem sie von der Forderung der Arbeiterschaft nach einer hundertprozentigen Gehaltserhöhung erfahren hatte. Um ihren Untergebenen zuvorzukommen, forderten die bundesdeutschen Direktoren ihrerseits eine generelle Herabsetzung der Löhne um 15 Prozent sowie eine sofortige Streichung der Prämien und der Gewinnbeteiligung, die in einem fast zwanzigjährigen Kampf der Gewerkschaft um die kollektivvertragliche Festsetzung der Lohn– und Arbeitsbedingungen festgelegt worden waren. Außerdem sollte nunmehr das Urlaubs– und Weihnachtsgeld (Aguinaldo) um 50 Prozent mit der Begründung gestrichen werden, die Volkswagenwerke in Puebla hätten aufgrund der Absatzkrise schwere Verluste einstecken müssen, Verluste, die es jetzt auf Kosten der Arbeitnehmer wettzumachen gelte. Um den hier „reconversion industrial“ benannten Rationalisierungsprozeß voranzutreiben, müßten weitere 723 Arbeiter entlassen werden. In den letzten sechs Jahren war die Zahl der Beschäftigten ohnedies schon von 15.409 auf weniger als 10.500 gesunken. Das war für die Gewerkschaft der VW–Arbeiter, die sich vor 15 Jahren von der offiziellen Zentrale CTM (Confederacion de Trabajadores Mexicanos) losgesagt hatte, zuviel. Ab 1.Juli traten die Arbeiter in den unbefristeten Streik. „Das ist ja absurd“, erklärte ihr Generalsekretär Facundo Ochoa bei der Verhandlung vor dem staatlichen Schiedsgericht. „Nicht nur, daß angesichts der galoppierenden Inflation unsere bemessenen Löhne (ein qualifizierter Arbeiter verdient bei VW circa 15 Mark am Tag) nur mehr die Hälfte der Kaufkraft haben, die sie vor fünf Jahren gehabt haben, jetzt wollen sie uns das auch noch kürzen. Für uns steht ganz klar fest, daß das Unternehmen diesen Streik provoziert hat.“ Warum haben die Manager von VW das wohl getan, fragte ich Facundo während einer kurzen Rauchpause im Verhandlungssaal. „Das ist sehr einfach zu erklären: Im Augenblick sind die Lager voll, wegen der Absatzschwierigkeiten, die es gegeben hat. Es ist also für VW ein günstiger Zeitpunkt, diesen Unternehmerstreik durchzuführen, ohne dabei zu verlieren. Im übrigen hat eine Studie, die wir zusammen mit der Universität Puebla gemacht haben, nachgewiesen, daß das Unternehmen im Vorjahr einen 90prozentigen Einkommenszuwachs und Gewinne in der Höhe von 103 Milliarden Pesos (circa 200 Millionen Mark) erzielt hat. Die Panik der Manager ist vielmehr darauf zurückzuführen, daß VW nach der Schließung von Renault vor einem Jahr nur einen einprozentigen Zuwachs am mexikanischen Markt erzielen konnte, während die mexikanische Nissan den Rest wegschnappte.“ „Halten Sie es für möglich, daß die Zentrale in Wolfsburg diese Strategie des Unternehmens diktiert hat“, kam es mir in den Sinn. „Das weiß ich nicht“, antwortete der 34jährige Gewerkschafter, der seit Ende 1984 Generalsekretär ist, „uns haben die Deutschen jedenfalls gesagt, daß wir entweder das Problem selbst lösen oder die Fabrik zusperren müssen.“ Es gab noch viele Fragen, aber da kam schon die ganze Mannschaft der hochgewachsenen Graumäuse angewandert, um der Gewerkschaft ihren neuen Vorschlag zu unterbreiten: Das Unternehmen würde zwar die Löhne der Mehrheit nicht beschneiden und sogar über eine fünfprozentige allgemeine Gehaltserhöhung mit sich reden lassen, wenn die Gewerkschaft akzeptiere, daß 1.200 der relativ gutverdienenden Arbeiter Lohnkürzungen in Kauf nähmen. Andererseits wurde die Zahl der Entlassenen auf über 800 „adjustiert“, im übrigen würden Prämien u.a. auch die Gefahrenzulage und Gewinnbeteiligungen ebenso gestrichen wie der freie Sonntag. Die Arbeiter waren sprachlos über diesen Verhandlungsvorschlag, der ihnen am letzten Mittwoch, am 29.Tag nach Streikbeginn von der Unternehmensführung unterbreitet wurde. Der Präsident des von der Regierung eingesetzten Schiedsgerichts aber behielt die Ruhe: „Wir müssen uns, glaube ich, doch noch etwas näher kommen. Es liegt im Interesse der Republik, daß dieser Konflikt durch eine Verhandlungslösung beigelegt wird und letzten Endes die Vernunft siegt.“ Die Verhandlung wurde um 48 Stunden vertagt. Inwiefern es jedoch wirklich im „Interesse der Republik“ liegt, diesen Streik von 10.500 VW–Arbeitern beizulegen oder ob die mexikanischen Regierungsbehörden es nicht vielmehr darauf abgesehen haben, die Kampfkraft einer der wichtigsten unabhängigen Gewerkschaften Mexikos in einem langandauernden Auszehrungsprozeß zu schwächen, ist bislang noch eine offene Frage. Die politischen Rahmenbedingungen würden jedenfalls für Letzteres sprechen. Der mexikanische Präsident Miguel de la Madrid, dessen Amtsperiode im nächsten Jahr zu Ende geht, hat seit einiger Zeit klargemacht, daß die Industrie, deren zweitwichtigster Zweig nach der Petrochemie die Automobilerzeugung ist, ohne effektive Rationalisierungsmaßnahmen (reconversion industrial) dem Konkurrenzdruck nicht wird standhalten können. In Mexiko hat seit einiger Zeit eine Diskussion über die „sozialen Kosten“, die die Umstrukturierung mit sich bringt, begonnen. In dieser Diskussion haben sich die unabhängigen Gewerkschaften zwar nicht prinzipiell gegen die Modernisierungspläne ausgesprochen, machen jedoch ihre Durchführung davon abhängig, daß für die freigewordenen Arbeitskräfte in neu zu gründenden Betrieben Arbeitsplätze wiedererrichtet werden.