Vom Saubermann Indiens zur Skandalnudel

■ Nach 1.000 Tagen Regierung ist Premierminister Rajiv Gandhis Stern verblaßt / Die alten Wählerschichten laufen der Congress–Partei davon, neue sind nicht in Sicht / Gandhi verstrickt sich in immer neue Affairen / Die sprachlichen, religiösen und ethnischen Unterschiede Indiens bieten ständig Zündstoff für neue Konflikte

Von Uwe Hoering

Als Rajiv Gandhi vor 1.000 Tagen, Anfang November 1984, seiner ermordeten Mutter Indira in der Doppelrolle als Partei– und Regierungschef folgte, geriet ihm zunächst nahezu alles zum Erfolg: Im Punjab und in Assam schloß er Frieden mit den opponierenden Regionalbewegungen, die Wirtschaft wuchs wie selten zuvor, die Versorgungslage verbesserte sich, Getreideberge häuften sich in staatlichen Lagern, in verstaubte Amtsstuben zog allmählich frischer Wind. Doch inzwischen ist der Hofnungsträger selbst demontiert worden: Eine Kette von Skandalen hat sein Image nachhaltig getrübt - die Kraftprobe mit dem bisherigen Staatspräsidenten Zail Singh, die Affaire um die amerikanische Detektei Fairfax, die eingeschaltet worden war, um Kapitalflüchtlinge in den USA und der Schweiz aufzuspüren, Enthüllungen über Schmiergeld–Zahlungen bei Waffengeschäften mit der Bundesrepublik und Schweden, Gandhis Verschleierungsversuche, Korruptionsvorwürfe gegen enge Vertraute und zunehmend autoritärer Führungsstil. Eine Meinungsumfrage unter Großstadt– Bewohnern ergab kürzlich, daß nur noch 19 Prozent Gandhis Arbeit für gut oder sehr gut halten, jeder zweite dagegen findet sie schlecht oder sehr schlecht. Hochburgen gehen verloren Auch die politische Basis der Congress–Partei bröckelt: Regionalparteien regieren in den südlichen Bundesstaaten Andhra Pradesh, Karnataka und Tamil Nadu, in Kerala gelang den Kommunisten jüngst an der Spitze einer Koalition ein Comeback. Im kommunistisch regierten Westbengal hat Gandhi, ebenso wie in Assam, eine erhebliche Wahlschlappe erlitten. Im Punjab wurde die von der regionalen Sikh–Partei gestellte Regierung abgesetzt, es herrscht der Ausnahmezustand. So wurde die Congress–Partei in den letzten Monaten auf den bevölkerungsreichen Hindi–Gürtel Nord– und Zentralindiens zurückgedrängt, die Bundesstaaten Haryana, Uttar Pradesh, Bihar und Madhya Pradesh wurden ihre letzte Bastion. Doch auch die ist nicht mehr sicher. Haryana z.B., westlich der Haupstadt New Delhi gelegen, galt bis vor kurzem als Musterstaat. Jedes Dorf hat Strom, eine wetterfeste Straße verbindet es mit der Außenwelt. Die Landwirtschaft floriert, Haryanas Bauern produzieren Überschüsse, die überwiegend vom Staat aufgekauft werden. Verschiedenste Industrien haben Fuß gefaßt. Stahl und Textilien, Trecker und Haushaltsgeräte werden hergestellt. Gemessen am Pro–Kopf–Einkommen liegt Haryana an zweiter Stelle, nahezu gleichauf mit Punjab. Vieles davon verdankt Haryana der Congress–Partei, die den hauptstadtnahen Bundesstaat stets bevorzugt versorgte. Dennoch erlitt der „Congress“ bei der jüngsten Wahl zum Landesparlament im Juni eine böse Schlappe und konnte gerade noch fünf Wahlkreise gewinnen. Des Rätsels Lösung: Den zumeist hinduistischen Bauern Haryanas sitzt die Furcht im Nacken, die Sikhs im benachbarten Punjab könnten ihnen ihren Wasseranteil an den Flüssen, die aus den Himalayas herunterkommen, sperren. Und das Punjab–Abkommen zwischen den Sikhs und der Zentralregierung Rajiv Gandhis von 1985 sah eine Neuverteilung des Flußwas sers vor. Eine Kampagne der Bauernpartei Lok Dal zwang Gandhi in die Defensive. In letzter Minute versuchte er, die Gemüter der Haryaner zu beruhigen, indem er die Sikh–Regierung im Punjab absetzte und damit das Abkommen zu den Akten legte. Gleichzeitig gingen die „Kaffee–Fahrten“ für die Bauern in den Punjab weiter, auf denen sie sich davon überzeugen sollten, daß die Arbeiten am Kanal, der ihnen das begehrte Wasser bringen soll, Fortschritte machten. Reiche Bauern gegen Gandhi Zweites Wahlkampf–Thema in Haryana war die Lage der Bauern. „Der Congress ist gegen die Bauern“, meint Pratab Singh, ein Bauer aus der dominierenden Kaste der Jat. „Die Preise für Dünger, Pestizide und Saatgut haben sich verdreifacht, doch wir erhalten immer noch den gleichen Preis für unsere Produkte.“ Sein Kollege Bansi Singh setzt nach: „Wir bekommen überhaupt kein Saatgut oder Dünger, es sei denn wir kaufen auf dem Schwarzmarkt oder zahlen Bestechungsgelder“. Die weit verbreitete Korruption in Verbindung mit den bekannten Problemen einer modernen, kapitalistischen Landwirtschaft, die Fleiß und Innovationsbereitschaft der Bauern mit steigenden Produktionskosten, wachsender Marktabhängigkeit und Verschuldung belohnt, treiben nicht nur in Haryana Bauern auf die Barrikaden. In Marahashtra schütteten Milchbauern aus Protest gegen Absatzschwierigkeiten Milch auf die Straße, Baumwollpflanzer verbrannten Synthetik–Stoffe, Tabakbauern errichteten Straßensperren und ließen sich zu Hunderten einsperren. In nahezu allen Landesteilen regt sich diese neue Bauernbewegung. Sie fordert höhere staatlich garantierte Erzeugerpreise, billigeres Saatgut, Dünger und Pestizide, niedrigere Strom– und Wasserkosten, ein Ende von Korruption und Versorgungsengpässen - kurzum: besseren Verdienst. Um die Subventionslast, die den Staatshaushalt bereits bedrohlich belastet, nicht noch weiter anschwellen zu lassen, leistet die Congress–Regierung hinhaltenden Widerstand um den Preis, die Sympathien dieses neuen, immer einflußreicher werdenden Teils der ländlichen Bevölkerung zu verlieren. In den Augen von Bau ern wie Bansi Singh und Pratap Singh ist der Congress längst der Repräsentant des städtisch–industriellen Indien, das das ländliche Indien (bharat) ausbeutet und benachteiligt. Den Kampf gegen die Korruption verloren Wie die Klage von Bauer Bansi Singh zeigt, ist es Rajiv Gandhi außerdem nicht gelungen, den Congress vom Ruch der Korruption und Vetternwirtschaft zu befreien, den dieser sich, seit der Unabhängigkeit vor 40 Jahren nahezu ununterbrochen an der Regierung, redlich erworben hat. Die innerparteiliche Säuberung, mit der Gandhi zu Beginn seiner Amtszeit Furore machte und die ihm seinen Ruf als „Mr. Clean“ einbrachte, hat wohl die „Alte Garde“ der Partei mit ihren vage sozialistischen Ideen weitgehend kaltgestellt und damit den Widerstand gegen seine Reformpolitik gemindert. Doch die Partei hat er nicht grundlegend erneuern können. Fraktionskämpfe und der Streit um die Pfründe legen in zahlreichen Bundesstaaten die Arbeit von Partei und Regierung lahm. Den Neulingen fehlt es nicht nur, wie ihrem obersten Chef, an politischer Erfahrung, sondern auch an Rückhalt bei den Meinungsführern der verschiedenen Bevölkerungs–, Religions– und Kastengruppen, an Beziehungen, die im indischen Polit–Zirkus überlebensnotwendig sind. Gleichzeitig wird ein Mitte Juli aus der Partei ausgeschlossenes Politiker–Quartett zur gefährlichen Konkurrenz für Rajiv Gandhi. Insbesondere V. P. Singh, als Finanzminister bis Anfang dieses Jahres Vollstrecker der neuen Wirtschaftspolitik, wird immer populärer. Durch seinen rigorosen Kreuzzug gegen Steuerhinterzieher und seinen spektakulären Rücktritt aus Protest gegen die Verschleierung von Schmiergeldzahlungen bei Waffengeschäften strahlt er neben dem angeschmuddelten Gandhi hell und sauber wie kein anderer. Religiöse Armeen Daneben liefert die sprachliche, ethnische und religiöse Vielfalt des Landes ständig neuen Zündstoff für Konflikte, die um so heftiger und häufiger werden, je erfolgreicher die moderne Entwicklung die herkömmlichen Le bensverhältnisse umwälzt. Die explosivste dieser Entwicklungen ist der Kommunalismus, die wachsende Militanz hinduistischer und muslimischer Fundamentalisten. Eine halbe Million Hindus folgten diesmal den Wagen mit Götterstatuen, die vom Jaganath–Tempel aus durch die Innenstadt Ahmedabads zogen, das Vierfache vom letzten Mal. Nur durch ein starkes Polizeiaufgebot konnte verhindert werden, daß die traditionelle Prozession, die von den Muslims der Großstadt im westindischen Gujarat als Provokation empfunden wurde, zu blutigen Ausschreitungen führte, wie früher bei ähnlichen Anlässen. Wenige Wochen zuvor, Mitte Mai im nordindischen Meerut, waren bei bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen zwischen Angehörigen der beiden Religionsgruppen, ausgelöst durch einen nichtigen Anlaß, über 150 Menschen getötet und 1.000 verletzt worden. Kaum waren die Kämpfe in Meerut abgeflaut, liefen Angehörige der Bereitschaftspolizei in der kleinen Ortschaft Malliana, wenige Kilometer außerhalb der Stadt, Amok: kaltblütig erschossen sie zahlreiche Muslims, Leichen wurden noch Tage später aus dem Ganges–Kanal gefischt. „Die Bereitschaftspolizei ist genauso schlimm wie die Nazi–Besatzer. Sie will die Muslims in Uttar Pradesh vernichten.“ Syed Shahabuddin, Parlamentsabgeordneter der Janata–Partei, artikuliert den verbreiteten Eindruck, daß die Polizei, die sich nahezu ausschließlich aus Hindus rekrutiert, längst vom kommunalistischen Virus infiziert ist. „Überall da, wo die Muslims aufgestiegen sind, hat es Ausschreitungen gegeben“, meint ein Funktionär der oppositionellen Lok Dal. Wirtschaftliche Konkurrenz, Neid und der schärfer werdende Wettbewerb um Ausbildungs– und Arbeitsplätze heizen die religiös verbrämten sozialen Spannungen an. Das Ziel des Terrors ist zumeist, die Muslims aus ihren einstigen wirtschaftlichen Hochburgen, städtisches Handwerk und Handel, zu verdrängen. In eine Frontstellung der Religionsgruppen lassen sich aber auch Konflikte zwischen Arbeitern und Unternehmern, Landarbeitern und Grundbesitzern - letztere überwiegend Hindus, erstere meist Muslims - verwandeln. Schließlich profitiert das organisierte Gangstertum von den wachsenden Spannungen - ebenfalls säuberlich geteilt in hinduistische und muslimische Banden. Haji Mastan, Unterwelt–König in Bombay, hat sein Herz für die muslimischen Glaubensbrüder entdeckt und die Anführer der hinduistisch–chauvinistischen Shiv Sena in Meerut und Delhi sind stadtbekannte Kriminelle. Seit hinduistische Organisationen vor etwa zwei Jahren begannen, zur „Befreiung des Geburtsorts von Gott Rama“ aufzurufen, fühlen sich die Muslims provoziert wie selten zuvor. Denn an der Stelle, die den Hindus als Geburtsstätte ihres Gottes gilt, steht seit dem 17. Jahrhundert eine Moschee. Die Hindu–Offensive, für die sich in Nordindien Hunderttausende mobilisieren lassen, verstärkt das tiefsitzende Verfolgungsgefühl der muslimischen Minderheit, die sich als Bürger zweiter Klasse behandelt sieht. Allzu oft wird sie als fünfte Kolonne des Erzfeindes Pakistan denunziert. Viele Muslims sind nicht länger bereit, sich an den Rand drängen zu lassen. Ihr religiöses und politisches Selbstvertrauen ist gewachsen: Mit dem Wohlstand vieler Händler, die mit den Glaubensbrüdern in den arabischen Ländern schwungvolle Geschäfte betreiben, und den Geldüberweisungen der Gulfis, der Arbeitsemigranten in den Golfstaaten. Für alle sichtbar wird dieser Wohlstand zum Ausdruck gebracht in neuen Moscheen und Koranschulen. So ist es kaum eine Überraschung, daß Fundamentalisten auf beiden Seiten immer größeren Rückhalt finden, die Zahl kommunalistischer Gruppen steigt steil an. Verstört und verunsichert wenden sich immer mehr Muslims, bislang zuverlässige Stammwähler des Congress, Politikern, Mullahs und Organisationen zu, die sich nicht scheuen, die polit–religiöse Karte auszureizen. Da auch die Underdogs der Hindu–Gesellschaft, die einstigen Unberührbaren, sich zunehmend selbständig organisieren, droht dem Congress der Verlust seiner treuesten Wähler: der Minderheiten und Randgruppen, die bisher hoffen konnten, mit ihrer Stimme für die Regierungspartei Sicherheit und ein paar Fördermaßnahmen zu erkaufen.