D O K U M E N T A T I O N „Mein nackter Körper krümmte sich unter den Stromstößen“

■ Offener Brief von Rolando Cartagena Cordoba, einem der 14 in Chile mit der Todesstrafe bedrohten politischen Gefangenen, an den Bundesaußenminister, die Ministerpräsidenten der Länder, die Vorsitzenden politischer Parteien, humanitärer Organisationen und an die Bevölkerung der Bundesrepublik

Inmitten eines nationalen Hungerstreiks der chilenischen politischen Gefangenen als Protest gegen die Kultur des Todes und des Terrors der Diktatur, die auch in der letzten Zeit zur Ermordung von zwölf Menschen und zur Aufrechterhaltung der Todesstrafenforderung gegen 14 politische Gefangene geführt hat, wurde mir durch die chilenische Presse die Auseinandersetzung in verschiedenen Bereichen der deutschen Gesellschaft um das politische Asyl für die 14 zum Tode verurteilten Chilenen bekannt. Angesichts der Dringlichkeit dieser Tatsachen sehe ich mich gezwungen, mich wegen der Umstände der Gefangenschaft auf dem schriftlichen Wege aus dem Öffentlichen Gefängnis in Santiago de Chile an Sie zu wenden. Ich bin einer der politischen Gefangenen, denen die endgültige Verurteilung zum Tode durch das Militärregime des Diktators Pinochet, eingesetzt mit der Macht der Waffen gegen den Willen des Volkes, bevorsteht, oder dem eine lange Haftstrafe droht, falls die Todesstrafe nicht ausgesprochen oder vollstreckt werden sollte. Die Gründe, die dazu geführt haben, daß ich mein Leben und meine Freiheit, die heute mehr bedroht sind denn je, während der letzten sechs Jahre der Gefangenschaft aufs Spiel gesetzt habe, leiten sich aus der Tatsache ab, daß ich mich konsequent den konstitutionellen demokratischen und freiheitlichen Prinzipien verpflichtet fühle. Diese Prinzipien und Grundsätze sind seit dem Tag des Putsches mit Füßen getreten worden. Das Ziel meines Kampfes ist das meines Volkes: die Errichtung einer demokratischen und freiheitlichen Regierung, die sich auf eine authentische und legale Verfassung stützte, in der das Volks als einziger Souverän über Gegenwart und Zukunft entscheiden kann. Am 11. September 1973 war ich 18 Jahre alt; war ein junger Studentenführer und stammte aus einer einfachen Familie, aus bescheidenen Verhältnissen. Vor dem Putsch studierte ich, lernte, diskutierte und kämpfte für meine Ideale, die von einer immensen Mehrheit der Jugendlichen geteilt wurden. Meine Waffen waren die Ideen, die Argumente, die demokratischen Übereinkünfte der Schüler– und Studentenbewegung und des chilenischen Volkes. Das Beispiel von Männern und Frauen, die ihre persönlichen Interessen zugunsten der des Volkes hintanstellten, waren und sind immer noch meine politischen, ideologischen und moralischen Quellen. Sie waren Leitbilder für uns Jugendliche, wie es auch heute der Fall ist; sie orientierten die Bewegung und die Rebellion auf das Verständnis des unerschöpflichen kulturellen Reichtums, den wir besitzen, und darauf, daß wir uns in der Gegenwart für die Zukunft des Landes und des Volkes von Chile ganz und gar einsetzen. Und wir waren bereit, dafür - wenn nötig - zu streiken. An jenem Tag verabschiedete ich mich von meiner Familie wie Tausende anderer Chilenen. Wir dachten, wir kämen zurück und der Albtraum des drohenden Putsches würde sich in nichts auflösen. Es konnte doch nicht möglich sein, daß eine Handvoll von Putschisten und Faschisten die Verfassung zugrunderichteten, die die Parteien, und insbesondere der Präsident, mit Stolz geachtet und verfochten hatten. Dennoch geschah das Unvermeidliche: ich wurde von Militärs und bewaffneter Polizei am Nachmittag jenes Tages verhaftet. Meine Jugend, meine Ideale, meine Träume wurden in die Folterkammern und später ins Gefängnis geschleppt. So begann meine persönliche Kenntnis von Angst und unbeschreiblichem Terror; die Kenntnis auch der Brutalität, zu der ein menschliches Wesen fähig sein kann. Dort hörte ich in einer Kaserne der Kriminalpolizei die verzweifelten Schreie von Menschen, die Recht und Respekt forderten. Sie bekamen als Antwort nur die Intensität der elektrischen Stromstöße und das ironische Gelächter der Folterer. Später erfuhr ich am eigenen Leib, was diese Menschen im Moment der Folter fühlten und erlitten. Es folgte das Gefängnis, täglich kamen neue gefolterte Menschen, und in den Nächten wurden sie erneut herausgeholt, um neue Verhöre über sich ergehen zu lassen. Ein Händedruck, eine Umarmung waren das einzige, was wir ihnen mitgeben konnten, um diesen schweren Moment zu überstehen. Ich hatte Zellengenossen, die von soviel elektrischem Strom gelähmt geblieben waren; einer von ihnen konnte sich dank unserer Pflege erholen. Dann wurde er wieder aus der Zelle geholt, um erneut verhört zu werden, und dann vor den Türen des Gefängnisses ermordet. Er hieß Rigoberto Achu Liendo. Dank der deutschen Solidarität und besonders der von amnesty international konnte ich 1976 dem Terror, unter dem mein Volk litt, mit 21 Jahren entgehen, um in Deutschland zu leben. Dort lernte ich die Solidarität des deutschen Volkes mit meinem Volk zu schätzen. Ich fand gute Freunde, die mir bis zum heutigen Tag helfen, am Leben zu bleiben. Ich bemerkte die Courage und moralische Festigkeit einiger humanitärer, sozialer, solidarischer und politischer Organisationen und Institutionen und ihr Engagement für die Menschenrechte in Chile. Diese folgenschweren Momente riefen auch das chilenische Exil auf den Plan. Ihm fiel die Aufgabe zu, eine wichtigere Funktion zu übernehmen, wozu es auch gehörte, an die Front der Kämpfer zurückzukehren, um sich in die Reihen des Volkes einzugliedern und auf verschiedenen Ebenen den Kampf für Freiheit und Demokratie und gegen die Diktatur zu führen. Die anfangs dargelegten Gründe und dieser Aufruf erreichten auch mich und waren ausschlaggebend für meine Entscheidung, zu meinem Volk zurückzukehren und sein Schicksal zu teilen. Ich muß zugeben, daß ich, wie jedes menschliche Wesen, das das Leben liebt, Angst hatte, wieder Folter erleiden zu müssen, daran zu sterben oder im Kampf das Leben zu verlieren. Ich habe niemals an Inhaftierung gedacht, denn ich war mir über die Politik der Diktatur im Klaren, keine Kämpfer am Leben zu lassen und notfalls auf vorgetäuschte Auseinandersetzungen oder schlicht und einfach auf das Verschwindenlassen zurückzugreifen. Dennoch wurde ich am 10. Juli 1981 verhaftet: Wieder gab es physische und psychologische Folter: der Schmerz, der Horror und die Verzweiflung, die aus meinem Sinn zu vertreiben ich ständig bemüht gewesen war, drangen erneut in mich ein mit ungeahnter Heftigkeit. Diesmal war es schlimmer, es gab mehr Gewalttätigkeit und Barbarei in den Verhören. Diesmal waren es nicht nur Stromstöße und Scheinhinrichtungen, die Folter war raffinierter und grausamer: Mein nackter und wie ein Tier an eine Metallstange gehängter Körper krümmte sich unter den Stromstößen. Danach kam die Erstickungsfolter, sie drückten mir Wasser durch die Nase in die Lunge, der Mund war mit einem Tuch zugeknebelt und mein Körper an einen Tisch oder Brett gefesselt. Die Behandlung wiederholte sich mehrmals. Die Todesandrohung wurde ständig wiederholt, so daß ich meinen Tod als etwas Gegebenes hinnahm. Ich wurde fortwährend und hart am ganzen Körper geschlagen. Man ließ mich nicht schlafen, und wenn es doch erlaubt wurde, schlief ich ausgestreckt, mit hängenden Armen auf einer schmalen Matratze. Ich wurde in drei Kasernen der Kriminalpolizei gefoltert: Limache, Valparaiso und Santiago. Im letzten Fall beteiligte sich auch die CNI an den Folterungen. Ich hatte das schwere „Vergehen“ begangen, die in einer Anklage zusammengefaßt wurden: „Angriff gegen die innere Sicherheit des Staates“, oder besser gesagt, „Angriff gegen die Stabilität und die Fortdauer der Militärdiktatur“. Denn für die Militärdiktatur ist sie selbst seit 1973 die einzige Staatsgewalt. Der Gipfel der Willkür war, daß sie mich der Militärstaatsanwaltschaft in Santiago vorführten und mich zwangen, die Anklage wieder zu bestätigen und ihr Verfahren zu akzeptieren, andernfalls würde ich wieder in die Folterkammern zurückgebracht. In den Gefängnissen der Diktatur treffe ich auf Menschen, die genau wie ich durch das Militärregime verhaftet wurden. Wir alle sind ungeachtet unserer unterschiedlichen sozialen Herkunft und politischen Anschauungen aus dem selben Grund Gefangene: gegen die Tyrannei zu denken und zu handeln, einzutreten für die Errichtung eines Rechtsstaates für das chilenische Volk. So sind wir aus Kämpfern in „Freiheit“ zu inhaftierten Kämpfern geworden, zu politischen Gefangenen. Dennoch versucht die Diktatur durch eine intensive Kampagne zur Unterdrückung der antidiktatorischen Kämpfe unseren authentischen Status als politische Gefangene mit Zweifeln zu überdecken, indem sie uns angeblicher terroristischer Aktivitäten bezichtigt. Einige zwar geringe, jedoch einflußreiche Sektoren der internationalen Öffentlichkeit halten, sei es durch politische Engstirnigkeit, durch Informationsmangel oder weil sie unsere Realtität nicht begreifen, da sie sie mit ihren spezifischen Bedingungen vergleichen, hartnäckig solche Zweifel aufrecht. Das drückt sich aus durch ein Aufhalten und Behindern der politischen und humanitären Aktionen ihrer Mitbürger, die bestimmte Freiheiten zu erreichen suchen, wie z.B. in Bezug auf die 14 politischen Gefangenen, die politisches Asyl bekommen können. Das große Problem Chiles, der Ursprung so vieler Verbrechen und Verletzungen der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte des Volkes, ist die Militärdiktatur und ihr Terrorstaat. Die diplomatischen Vertreter der Diktatur, deren Beteiligung an terroristischen Handlungen erwiesen ist, sollten zum Gegenstand der großen Debatte werden. Wir, die wir die große Bewegung gegen die Diktatur und Pinochet bilden und feurige Befürworter der Demokratie sind, lehnen entschieden die terroristischen Praktiken in Chile und anderswo in der Welt ab. Mehr noch, wir verabscheuen sie. Denn wir kennen aus eigener Erfahrung die Auswirkungen, den Schaden, den der Terror der Pinochetdiktatur und seiner Sicherheits– und Ordnungstrupps anrichten. Denn der Terrorismus ist ein Akt der Barbarei, der die Menschenrechte brutal und kaltblütig bedroht und mißachtet. Die Militärdiktatur hat barbarische Akte wiederholt, die das Bewußtsein der Menschheit aufs Äußerste verletzten. Die chilenische Bevölkerung ist Terror, Hunger und Elend unterworfen. Zweifellos bestätigen die die Diktatur verurteilenden Berichte der Vereinten Nationen den terroristischen Charakter der Militärdiktatur zur Genüge. Bürger der Bundesrepublik, dies sind einige Hintergründe und Ursachen, die das chilenische Volk dazu gebracht haben, entschlossen und unerschrocken gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu kämpfen, und weswegen einige von uns von der Diktatur verfolgt, gefoltert, inhaftiert und verurteilt sind zu Haft– und Todesstrafen. Ich habe diesen Brief geschrieben unter den Bedingungen des nationalen Kampfes der politischen Gefangenen gegen das Militärregime, gegen dessen Terror– und Todeskultur und für unser Recht auf Leben und Freiheit. Ich hoffe, daß dieses Bemühen von den Zögernden verstanden wird und die Haltung und Initiativen der großen Bewegung in der Bundesrepublik stärkt, die sich für die Menschenrechte, gegen die Todesstrafe und für das Asyl zugunsten der 14 chilenischen politischen Gefangenen als einem konkreten Schritt für die Befreiung aller politischen Gefangenen in Chile einsetzt. Santiago de Chile, 26. Juni 1987 Dieser Brief wurde übersetzt, gekürzt und redaktionell bearbeitet (taz–Redaktion)