Richter schützte Embryo um jeden Preis

■ Celler Amtsrichter verbot einem 16jährigen Mädchen Abtreibung trotz sozialer Notlage und möglicher Schädigung des Embryos durch Tabletteneinnahme / Gericht macht sich zum „Vormund“ über das ungeborene Leben / 16jährige nach Urteilsverkündung abgetaucht

Von Irene Stratenwerth

Berlin (taz) - Wenn eine 16jährige, im Kinderheim lebende Schülerin, die sich von ihrem Freund getrennt hat und mit der Mutter im Streit liegt, ungewollt schwanger wird, ist das noch lange keine Notlage. So entschied das Amtsgericht Celle in einer jetzt in der neuesten Ausgabe der Familienrechtszeitschrift publizierten Entscheidung vom vergangenen Februar. Und um zu verhindern, daß sich die Betroffene mit einem Schwangerschaftsabbruch „strafbar“ mache, verhängt es „vorsorglich“ ein Zwangsgeld gegen sie und den leitenden Gynäkologen des nächstgelegenen Krankenhauses. Nach einem gescheiterten Versuch, die Schwanger schaft durch die Einnahme von zwei Päckchen Anti–Baby–Pillen zu beenden, hatte Roswitha K. (Name von der Red. geändert) einen Frauenarzt aufgesucht, der ihr zwar eine „Notlagenindikation“ austellte, vor deren Unterzeichnung aber mit Roswitha K.s Mutter sprechen wollte. Die verweigerte der Tochter die Zustimmung zum Abbruch. Das Gericht, das von Roswitha K. daraufhin angerufen wurde, bestätigte in seinem Beschluß (AZ 25 VII K 3470 SH) nicht nur die Notwendigkeit einer Zustimmung durch die Mutter, sondern auch deren inhaltliche Entscheidung. Einer 16jährigen, so befand es, fehle in aller Regel die „geistige und sittliche“ Reife, um die „phy sischen, vor allem aber auch psychischen Folgen“ des Eingriffes zu überblicken. Aber auch für den Fall, daß die Mutter ihre Meinung ändern sollte, sorgte das Gericht vor. Es bestellte sich quasi selbst zum Vormund des werdenden Lebens, um mit Hilfe der Zwangsgeldandrohung die Gefahr einer Abtreibung von ihm abzuwenden. Ausführlich wird auch begründet, warum Roswitha K.s Lebenssituation keine Notlage sei. Die Betroffene lebe im Heim, könne dort auch bleiben und gegebenenfalls in ein Mutter–und–Kind– Heim überwechseln. Für den Lebensunterhalt des Kindes würden öffentliche Mittel aufgebracht. Eine Notlage „psychischer Art“ sei zwar möglicherweise zu erkennen. Aber: „Ihre (...) Bedrängnis wird weniger durch objektive, von ihr nicht änderbare Bedingungen als durch ihre innere Einstellung zu der Schwangerschaft hervorgerufen. Diese Einstellung ist jedoch angesichts der psychisch und physisch gesunden Verfassung R.K.s (...) veränderbar.“ Zur „Hilfestellung“ bei der notwendigen Einstellungsänderung sei ihre Heimleiterin als Vertrauensperson „verpflichtet“. Außerdem sei es „einer Mutter in einer derartigen Situation generell zumutbar“, das Kind in Pflege oder zur Adoption freizugeben, falls sie sich dennoch überlastet fühle. Eine einzige Einschränkung im „absoluten „ Lebensschutz für den Embryo macht das Celler Amtsgericht: Roswitha K. hatte die - durch einen Arzt bestätigte - Befürchtung geäußert, der Embryo könne durch die überdosierte Pilleneinnahme geschädigt sein. Das rechtfertige zwar - vorläufig - keine Abtreibung, erklärt das Gericht, empfehlenswert sei aber eine Fruchtwasser– und Ultraschalluntersuchung in der 16. Schwangerschaftswoche. Sei das Kind tatsächlich geschädigt, könne man über die Berechtigung einer Abtreibung neu entscheiden. Roswitha K. hat gegen den Beschluß keine Beschwerde eingelegt, er wurde rechtskräftig. Nach Auskunft des Amtsgericht Celle wurde das Zwangsgeld nicht vollstreckt; das weitere Schicksal des Mädchens ist dem Gericht unbekannt, weil es seit einiger Zeit ohne festen Wohnsitz ist.