Schmerz ist, wenns weh tut

■ Fast 3.000 Schmerzforscher trafen sich auf dem 5. Weltkongreß über Schmerz / Aus Hamburg Gabi Haas

Schön ist es, wenn er nachläßt. Das kann man durchaus als die treffendste Definition des Schmerzes bezeichnen. Kaum jemand, der nicht bereits seine unangenehme Bekanntschaft gemacht hat. Meist ist Schmerz ein Warnsignal des Körpers, aber manchmal ist eine organische Ursache nicht zu finden. Woher er kommt, warum er bleibt und vor allem, wie er zu lindern ist, darüber diskutierten Schmerzforscher aus aller Welt in dieser Woche in Hamburg.

Kaum zu glauben: Der Schmerz, den wir alle kennen und fürchten, der Millionen Menschen zur dauerhaften Marter wird, galt in der Medizin bisher als reine Nebensache. Als bloße Begleiterscheinung von Krankheiten, im Abseits des ärztlichen Interesses. Dabei ist der Schmerz selbst eine Volksseuche: Schätzungsweise rund ein Drittel der Bevölkerung leidet an Symptomen chronischer Schmerzen, aber nur die Hälfte der Menschheit lebt in Ländern, in denen überhaupt starke Schmerzmittel zu haben sind. In der Bundesrepublik, das ergab eine Studie des Heidelberger Schmerzforschers Prof. Manfred Zimmermann, gibt es mindestens 400.000 Menschen mit „schwersten Dauerschmerzen“. Zimmermann vor den Kongreßteilnehmern: „ Ein Patient kann durch akuten oder chronischen Schmerz sterben, oder allein durch die durch Schmerz verursachte Hoffnungslosigkeit.“ Am schlimmsten wohl die Situation der Krebskranken in aller Welt: Nach Angaben eines WHO– Vertreters sterben jährlich dreieinhalb Millionen Tumorpatienten unter Schmerzen - fast alle von ihnen könnten bis zu ihrem Tod schmerzfrei sein, wenn ihnen die stark wirksamen Opiate in richtiger Weise verabreicht würden. Diese krasse Unterversorgung gilt nicht nur für die armen Länder. „In den USA“, berichtet die Krebs–Ärztin Dr. Kathleen Foley, „werden Krebsschmerz– Leidende behandelt wie Drogensüchtige.“ Von all den Pillen, die Tag für Tag gegen den Schmerz geschluckt werden, sind viele wirkungslos, ja, verstärken sogar noch die Qual. Anders nämlich als bei den Opiaten und Morphinen, können Kopfschmerz–Tabletten wirklich süchtig machen. Der Migräne–Experte Prof. Wolf Dieter Gerber überraschte mit der Feststellung, daß als Folge dieser Sucht ein Fünftel der etwa drei Millionen Migräne–Patienten in der Bundesrepublik zusätzlich an quälendem Dauerkopfschmerz leiden. Meist ein Ergebnis der ständigen Einnahme sogenannter Misch–Präparate (Kombination von Ergoterminen und Barbituraten), die zur Medikamenten–Ab hängigkeit führen. Diesen doppelt Geplagten kann oft nur der Entzug im Krankenhaus helfen. In den USA, wo die gefährlichen Suchtauslöser längst verboten sind, ist die Erscheinung zusätzlicher Dauerkopfschmerzen bei Migräne praktisch nicht zu finden. Über zehn Jahre hat sich ein solcher Migräne–Patient im Durchschnitt mit seiner Krankheit und den verschiedensten Medikamenten herumgeschlagen, bis er in einer der wenigen Schmerz–Kliniken landet, die es in der Bundesrepublik inzwischen gibt. Nur hundert solcher Anlaufstellen stehen laut Zimmermann–Studie den Hunderttausenden von Schmerzkranken in der Bundesrepublik zur Verfügung, vielfach bei der niedergelassenen Ärzteschaft nicht einmal bekannt. Nach langen Anmeldezeiten wird jeder Neuankömmling dort erst einmal gründlich durchgecheckt, manchmal eine neue Diagnose gestellt. Entscheidend: Es findet eine Kooperation aller wichtigen Einrichtungen wie Neurologie, Orthopädie und Anästhesiologie statt. Bei der Wahl der Therapieformen gibt es praktisch keine Tabus: Operationen oder medikamentöse Behandlungen sind ebensowenig ausgeschlossen wie Nervenblockaden, physikalische, Psycho– oder Verhaltenstherapie, Hypnose oder Akupunktur. Gerade die Akupunktur, bisher als „alternative“ Behandlungsmethode eingestuft, hat bei Kopf–, Gelenk– oder Rückenschmerzen beachtliche Erfolge aufzuweisen. Sie steht, wie ein Wissenschaftler meinte, „an der Schwelle der schulmedizinischen Anerkennung“, und war auf dem „Weltschmerz–Kongreß“ (Insider–Jargon) gut repräsentiert. Etwa 80 Prozent der Migräne–Patienten, darin waren sich die Nadelstich– Experten aus Heidelberg und Düsseldorf einig, können von der Akupunktur deutliche Linderung erwarten. Dennoch wird ein „wissenschaftlicher“ Nachweis der alten chinesischen Schmerztherapie verlangt. Zwar gibt es eine Fülle klinischer, aber eben nicht „kontrollierter“ Vergleichsstudien zur Entwicklung der Akupunktur. Doch müssen die Akupunkteure nicht nur um wissenschaftliche Anerkennung kämpfen, sondern sich auch gegen den Vorwurf der Gefährlichkeit zur Wehr setzen. Nur wenn ausgebildete Mediziner zu den Nadeln greifen, so argumentieren sie, gehöre die Akupunktur zu den harmlosesten aller Schmerztherapien. Der Düsseldorfer Wissenschaftler Albrecht Molsberger zum Thema Akupunktur und AIDS: „Ich halte das für zwei Reizwörter, die in unzulässiger Weise miteinander verkoppelt werden. Man muß sich unglaublich anstrengen, um mit einer Akupunkturnadel AIDS zu übertragen. Wenn man die Nadeln sterilisiert, was wir alle tun, ist da überhaupt keine Gefahr.“ Nicht nur die Sucht nach Pillen, auch der Griff zum Skalpell hat für die betroffenen Patienten häufig fatale Folgen. Eklatantestes Beispiel: Die Bandscheibenoperation, die seit ihrer Einführung in den dreißiger Jahren in den industrialisierten Ländern wie am Fließband durchgeführt wird. Jährlich 20.000 Rückenleidende müssen sich hierzulande dem Chirurgen beugen, getrieben von dem Drang nach Schmerzlinderung, doch meist vergeblich, wie neuere Untersuchungen nahelegen. Mehr als die Hälfte einer untersuchten Patientengruppe wurde ohne Krankheitsbefund operiert. Rückenschmerzen, erklärten die Experten, sei nur ein sehr allgemeines Symptom für mindestens fünfzig verschiedene Krankheiten: „Aber die Menschen lieben eben einfache Lösungen.“ Gerade in diesem zahlenmäßig größten Bereich der Schmerzleidenden spielen psychosomatische Faktoren eine bedeutende Rolle. Long fand beispielsweise bei einem Teil der anatomisch offenbar gesunden Rückenschmerzleidenenden „anhaltende Störungen der Persönlichkeit oder psychiatrische Erkrankungen“. Für das Heer der Rückenleidenden empfiehlt der Göttinger Schmerz–Experte Dr. Jan Hildebrandt - auch auf Grund seiner ganz persönlichen Erfahrungen mit dieser Volkskrankheit - eine relativ banale, aber wirkungsvolle Methode: die Rückenschule. In einem mehrstündigen Kurs wird den Patienten der Schmerzambulanz der Göttinger Uni–Klinik Wissen über die Anatomie der Wirbelsäule, die Anordnung von Bandscheiben, Muskeln und Nerven sowie über rückenfreundliche Körperstellungen verabreicht. Dazu ein paar Turnübungen und ein bißchen Psychologie, und viele kommen, so Hildebrandt, mit ihren Schmerzsymptomen im Alltag besser zuzrecht als nach jeder Operation. Kollege Spangfort aus Schweden kann das nur bestätigen. Keine Zaubermittel auch beim Rheuma in Sicht. Alle Hoffnungen, die chronische Poliathritis, an der immerhin ein bis zwei Prozent der Bevölkerung leiden, durch neuere Medikamente in den Griff zu bekommen, haben sich nicht erfüllt. Bleiben die altbe währten Mittel, über die, so tröstete Pharmakologe Prof. Kay Brune, man jetzt mehr weiß, um sie besser einzusetzen. Rätselraten noch immer, wodurch das „Feuerwerk in den Gelenken“ eigentlich ausgelöst wird. Warum tut das Knie weh? Weil es geschwollen ist, also aus mechanischen Gründen? Weil es gerötet ist, deshalb aus thermischen Gründen? Oder sind es chemische Veränderungen, die eine Veränderung des Schmerzempfindens bewirken? Antwort des Würzburger Physiologen Prof. Robert Schmidt: „Man weiß es nicht.“ Gelegentlich aber geschehen doch noch Wunder: So im Falle der wahren Geschichte von George, der wegen unerträglicher chronischer Schmerzen in den USA in eine Schmerzklinik eingewiesen wurde und dort in eine Gruppentherapie gesteckt wurde. Nach der Hälfte der vorgesehenen Zeit wurde George vorzeitig entlassen, da er sich dem Programm ständig entzog. „George“, erklärten ihm seine Therapeuten, „wir haben Ihnen nun alles gesagt, nun können Sie gehen.“ Nach sechs Wochen erschien ein strahlender arbeitsfähiger George zur üblichen Kontrolle. „Jungs“, sagte er, „ich habs geschafft, weil Ihr die ersten wart, die an mich geglaubt haben!“ Den verblüfften Psychotherapeuten erklärte er daraufhin: „Ihr habt doch selbst gesagt, ich habe alles von Euch gehört, und ich war so gut, daß ich drei Wochen früher als die anderen gehen durfte.“