Aktivierung des Selbsthilfepotentials

■ Sport als Mittel der Rehabilitation psychisch Kranker / Sportgruppen als Ausweg aus der Drehtürpsychiatrie

Mannheim - Dortmund1:0

Bonn (taz) - Irrenhaus, Verrückte - Worte, die meist unmittelbar fallen, wenn von Psychiatrie die Rede ist. Was haben nun Sport und Psychiatrie miteinander zu tun, eine Verbindung, die bei vielen auf den ersten Blick Stirnrunzeln hervorruft? Seit Beginn der 80er Jahre versuchen freie Initiativen durch Sportangebote, psychisch Kranken bei ihrer stufenweisen Rehabilitation zu helfen. Eine Aufgabe, welcher die Landeskrankenhäuser nicht immer gerecht werden. Personelle Engpässe und hohe Rückfallquoten lassen Kritiker von einer „Drehtürpsychiatrie“ sprechen. An der Rheinischen Landesklinik (LKH) in Bonn gibt es eine der wenigen offenen Bewegungsgruppen. Daß Sport bei der Wiedereingliederung der dort zu behandelnden Patienten helfen kann, davon ist Alfred Bermel, Betreuer der Gruppe, nach mehr als sechs Jahren ehrenamtlicher Arbeit überzeugt: „Das Sporttreiben wird von ihnen als freud– und lustvoll, als befriedigend und sinnvoll angesehen.“ Obgleich die LKH–Gruppe in ihrer Zusammensetzung sehr un terschiedlich ist (die Altersspanne reicht von 18–60 Jahren), weisen fast alle Personen ähnliche Auffälligkeiten auf. Alfred Bermel weiß von Antriebsschwächen, bedingt durch die Dauermedikation, Störungen der Erlebnis– und Persönlichkeitsstruktur, von geringem Konzentrations– und Reaktionsvermögen sowie Koordinationsschwächen zu berichten. Daß sich heute wöchentlich einmal zehn bis fünfzehn Patienten treffen, war anfangs ein hartes Stück Arbeit. Der 28jährige Bermel, der Sport, Mathematik und Physik studiert, erinnert sich: „Wir sind vor der Gründung der Gruppe von Zimmer zu Zimmer gegangen, um uns mit den Leuten vertraut zu machen.“ Nach einem halben Jahr „motivationaler Aufwärmarbeit“ und Klärung versicherungstechnischer Fragen kam es dann endlich zur ersten Übungsstunde. Die Sportgruppe in der Bonner Landesklinik soll zum einen den Stationsalltag für die Patienten erträglicher machen - bei einem wöchentlichen Zusammenkommen schon fast ein Unding. Vor allem aber soll sie den Teilnehmern Möglichkeiten aufzeigen, wie sie ihre Freizeit nach dem Klinikaufenthalt gestalten können. „Ideal wäre sicherlich, wenn die Patienten in einer „nachstationären Freizeitgruppe weitermachen könnten“, sagt Bermel. Solch eine nachstationäre Freizeitgruppe gibt es seit 1983 im Elisabeth–von–Thadden–Haus, wenige Kilometer von der Rheinischen Landesklinik entfernt. Die Sportgruppe in dem Übergangswohnheim, in dem die Patienten des LKH während einer maximal zwei Jahre dauernden Rehabilitationszeit darauf vorbereitet werden, wieder eigenständig in Wohngemeinschaften oder alleine zu leben, wurde von Sportstudenten der Bonner Universität gegründet. Sie arbeiten noch heute im Thadden–Haus als Übungsleiter. Ulla Brinkmann gehört dazu. „Am Anfang war es schon etwas komisch“, erzählt sie, „weil wir nicht wußten, wie mit den Leuten umzugehen war.“ Mittlerweile habe sich die Sportgruppe zu einem festen Programmpunkt in dem Wohnheim entwickelt, der nicht mehr wegzudenken ist. Im Vordergrund jeder Übungsstunde steht der re–integrative Aspekt. Ulla Brinkmann erklärt das so: „Wir legen großen Wert auf einen möglichst großen Freiraum für die Teilnehmer, in den sie sich und ihre Interessen einbringen können.“ Positive Erfahrungen mit Sport bei der Arbeit mit psychisch Kranken hat auch Hubertus Deimel, Sportwissenschaftler an der Kölner Sporthochschule, gemacht. Er kann auf eine viereinhalbjährige Arbeit in der „Arbeitsgemeinschaft für psychisch Kranke im Erftkreis e.V.“ zurückblicken, eine der ersten Initiativen überhaupt. Er empfiehlt bei der Nachsorge die Gründung von Patienten–Clubs, denn „bei der höheren seelischen Verletzbarkeit ist ein Schutzraum sehr nützlich.“ Hubertus Deimel ist sich sicher, daß Sport in einem „gesamtkonzeptionellen Rahmen“ bei der Rehabilitation von psychisch Kranken seine Berechtigung hat, weil Sport zu Aktivität, Mitbestimmung, Kommunikation und Interaktion anrege. Der Sportwissenschaftler glaubt, daß in Zukunft verstärkt auf den Sport in der psychiatrischen Nachsorge zurückgegriffen wird, um das Selbsthilfepotential der Betroffenen zu aktivieren. Vielleicht ist das der Weg für die Zukunft. Die herkömmlichen Einrichtungen zumindest hat die „Psychiatrie–Enquete“ des Deutschen Bundestages Mitte der 70er Jahre als menschenverachtend eingestuft. Ralf Köpke