Schleichende Gegenreform im Knast

■ Zehn Jahre nach Verabschiedung des Strafvollzugsgesetzes versuchen Justizpolitiker ein Rollback

In aller Stille planen die konservativen Justizminister der Länder eine Wende im Strafvollzug. Die Überlegungen zur „Gegenreform“ leitete der Berliner Justizsenator Scholz mit einem Brief an seine Länderkollegen ein. Zur 57. Justizminsterkonferenz Mitte September 86 in Mainz sollten sie einmal „rückschauend eruieren“, ob sich die Erwartungen des gerade zehn Jahre alten Strafvollzugsgesetzes in der Praxis erfüllt hätten. Dem Senator ging es in seinem Brief jedoch weniger um Erfahrungsaustausch als um Grundsätzliches. Zwar hätten mit dem Gesetz hundertjährige Bemühungen um eine gesetzliche Regelung des Strafvollzugs einen „erfolgreichen Abschluß“ gefunden, doch sie weise Mängel auf. So erwecke die Soll–Vorschrift § 3 des Strafvollzugsgesetzes nach Angleichung des Vollzugslebens an die allgemeinen Lebensverhältnisse eine „unrealistische Erwartung“. Auch die in dem Gesetzestext gemachte Einschränkung „soweit als möglich“ sei in „ihrer pauschalen Formulierung schlechterdings unrealistisch“. Für die Regelung von Vollzugslockerungen und Urlaub forderte er klare gesetzliche Vorgaben. Dabei müsse überlegt werden, „inwieweit die Tatschuld oder die Verteidigung der Rechtsordnung zu berücksichtigen sei“. Nach dem geltenden Gesetz spielt die Schwere der Schuld nur beim Strafmaß eine Rolle, Scholz überlegt zumindest sie auch im Strafvollzug wieder zu berücksichtigen. Das Strafvollzugsgesetz hat konzeptionell zumindest ein anderes Ziel: Im Mittelpunkt steht nicht Rache, sondern Resozialisierung, nicht Verwahr– sondern „Behandlungsvollzug“. Der Ge fangene soll lernen „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“. Strafzwecke wie Sühne oder Abschreckung dürften lediglich im Urteilsspruch, nicht jedoch während des Freiheitsentzugs berücksichtigt werden. Da seien alle gleich zu behandeln. Kritiker mutmaßten zu Recht, daß die Diskussion um die „Schwere der Schuld“ dazu diene das Strafvollzugsgesetz aufzubrechen. Ausgerechnet NS–Mörder lieferten Vorwand Mitte Februar waren sich die Strafvollzugsexperten der CDU– regierten Länder bei einer Sitzung in Würzburg darin einig, Freigang sowie Urlaub auch dann zu versagen, „wenn dies wegen der Schwere der Schuld oder zur Verteidigung der Rechtsordnung geboten ist“. Dabei spielt auch jetzt schon die Schwere der Schuld ganz gegen die Intention ins Strafvollzugsgesetz hinein: Denn 1983 hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit einer Beschwerde von zwei wegen vielfachen Mordes verurteilten NS–Tätern zu befassen. Ein beantragter Urlaub aus der Haft war den beiden betagten Verurteilten vom Gefängnis verweigert worden. Das oberste Gericht bestätigte damals die Urlaubsverweigerung durch die Anstalt: „Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Justizvollzugsanstalt bei der Entscheidung über die Gewährung von Urlaub aus der Haft für einen zu lebenslanger Freiheitstrafe verurteilten Gefangenen auch die besondere Schwere seiner Tatschuld berücksichtigt.“ Zwar haben die beiden NS–Täter inzwischen ihren Urlaub erhalten, aber die Entscheidung des BVerfG wirkt im Justizvollzug nach, vor allem im Hinblick auf andere als NS–Täter, zum Beispiel auch gegenüber Verurteilten aus der RAF. Jetzt wird versucht, dieses Urteil in ein Gesetz zu fassen. Anfang Juni trafen sich die Justizminister und -senatoren ausgerechnet am Timmendorfer Strand um die „Weiterentwicklung und Änderung des Strafvollzugsgesetzes“ zu beschließen. Einig wurden sie sich bei Fragen des Täter– Opferausgleichs, beim Wegfall der Zustimmung des Gefangenen für die Verlegung in den Offenen Vollzug und bei der „Berücksichtigung der Bereitschaft des Gefangenen zur Mitwirkung an der Erreichung des Vollzugsziels bei der Gewährung von Urlaub“. Außerdem solle „im Rahmen der Möglichkeiten“ das Arbeitsentgelt der Gefangenen erhöht werden. Das zumindest steht im Beschluß der Justizminister. Von der Schwere der Schuld war in den Beschlüssen nicht mehr die Rede. Und auch für Scholz ist die Frage auf einmal „nicht entschieden“, gibt es Argumente dafür und dagegen. Der Streit darum geht weiter. Raffinierter als die neue bayerische Justizministerin Berghofer– Weichner, die unverblümt mehr Sühne und Abschreckung fordert, mischt sich der baden–württembergische Justizminister Heinz Eyrich (CDU) in die Debatte. Er wolle keinen Kurswechsel im Strafvollzug, denkt aber öffentlich über die Berücksichtigung der Schwere der Schuld bei Vollzugslockerungen nach. Erfolg hat die Gegenreform jedoch nur dann, wenn auf Bundesebene Mehrheiten dafür gewonnen werden können. Der Berliner Justizsenator Scholz scheiterte mit seinen restriktiven Vorstellungen schon am FDP–Partner im Senat. Erwog er vor nicht allzu langer Zeit noch in einer Rede vor dem Abgeordnetenhaus, daß der Gefangene „im Einzelfall trotz Eignung mangels Mißbrauchsgefahr“ wegen der Schwere der Schuld von beabsichtigten Vollzugslockerungen ausgeschlossen bleiben kann, so ist heute bei ihm nicht mehr die Rede davon. Die Freien Demokraten kündigten ihm sogar für den nächsten Bundesparteitag eine Entschließung an, wonach Gesetzeskorrekturen, wie die „Überbetonung des Sicherheitsgedankens, die Einführung des Vergeltungs– und Abschreckungsprinzips bei Vollzugslockerungen, die Verschärfung von Disziplinarmaßnahmen und die Beschränkung von Klagemöglichkeiten von Gefangenen“, abgelehnt werden. Fragwürdige Resozialisierung Keinesfalls soll hier unterstellt werden, daß es sich bei dem Straf vollzugsgesetz um ein segensreiches Gesetzeswerk für die Gefangenen handelt. Im Gegenteil birgt es eine reformbedingte Schizophrenie in sich. Wie etwa soll „im Vollzug der Freiheitsstrafe der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“? Wie soll er „drinnen“ lernen, „draußen“ zu leben? Aber auch die Rechte des Gefangenen, die Möglichkeit, Vollzugslockerungen gerichtlich durchzusetzen, werden von denjenigen, die sich praktisch damit herumschlagen müssen, von Rechtsanwälten und von Gefangenen selbst, oft nur sarkastisch und gegen alle Intention der Reformer als gesetzlich geregelte Willkür gesehen. Die Ermessensvorschriften dominieren. Kurz: Die Kritik von links lautet, daß es keine Rechte der Gefangenen gebe, die konservativen Juristen befinden, daß sie keine Pflichten hätten. „Trotzdem“, so ein Einladungsschreiben von Grünen und AL zu einem Hearing zum Strafvollzugsgesetz im Oktober, sei es notwendig „eine Entwicklung zu Schlimmerem zu verhindern und die minimalen Rechte der Gefangenen zu verteidigen“. Der Gedanke, daß man vielleicht auch über die Abschaffung der Gefängnisse reden müsse, kommt angesichts solch bescheidener Verteidigungsbemühungen erst gar nicht mehr auf, ist längst routiniert in irgendwelchen grünen Parteiprogrammen eingesargt. Dabei würde doch vermutlich ein ganz kleines Gefängnis für die vielleicht hundert wirklich Gefährlichen in der Bundesrepublik reichen. Resozialisierung sei im Gefängnis unmöglich, erläuterte jüngst ein holländischer Professor bei einer Tagung von Gefängnispfarrern in Berlin: Damit werde so getan, „als ob man den Leuten im Gefängnis das Schwimmen lehren will“. Max Thomas Mehr