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Türkische Hungerstreikende in kritischer Phase

■ Hungerstreik aus Protest gegen menschenunwürdige Behandlung in den Knästen geht weiter / 800 Gefangene landesweit beteiligt / Schon 1985 erstellter Bericht einer Kommission geißelt Haftbedingungen / Justizminister: „Zu viel Essen macht fett“

Aus Istanbul Ömer Seven

„Die Herrschenden befinden nicht mehr nur darüber, ob unsere Söhne schuldig oder unschuldig, sondern auch darüber, ob sie Menschen oder Tiere sind.“ So umschrieb die Mutter eines Häftlings die Situation der politischen Gefangenen in türkischen Knästen. Auf einer Pressekonferenz, an der der Solidaritätsverein der Familienangehörigen, Vertreter des Menschenrechtvereins und Rechtsanwälte teilnahmen, wurde gestern über den neuesten Stand des Hungerstreiks der politischen Gefangenen informiert. Gegenwärtig befinden sich rund 800 Gefangene in verschiedenen Gefängnissen im Hungerstreik. Die Hungerstreiks richten sich gegen die menschenunwürdige Behandlung in den Sonder knästen für politische Gefangene. Physische und psychische Folter ist hier an der Tagesordnung. Willkürlich werden Familienangehörigen Besuche verweigert. Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal. Das Justizministerium verwehrt den Familienangehörigen auch, den Gefangenen Essen zukommen zu lassen, das Gefängnisessen ist ungenießbar ist. 325 türkische Lira, umgerechnet 70 Pfennig, beträgt der amtlich festgesetze Ernährungssatz pro Tag und Gefangenen. Lebensgefährlich ist die Situation der sieben Gefangenen im Istanbuler Gefängnis Sagmacilar. Sie befinden sich im 37. Tag ihres Hungerstreiks und sind im Gefängniskrankenhaus in der Station für TBC–Kranke angekettet worden. Rechtsanwälten und Eltern wird jegliche Kontaktaufnahme verweigert. 14 Familienangehörige, die mit einem Sitzstreik vor dem Gefängnistor auf ihre Situation aufmerksam machen wollten, waren vor fast zwei Wochen von der Polizei brutal verprügelt worden und befinden sich nun ebenfalls in dem Zuchthaus Sagmacilar. Unterdessen wurde bekannt, daß eine parlamentarische Untersuchungskommission, an der Abgeordnete aller Parteien beteiligt waren, bereits 1985 in einem Bericht auf Folter und menschenunwürdige Behandlung in den gefängnissen aufmerksam machte und dem Justizminister Vorschläge zur Verbesserung der Haftbedingungen unterbreitete. Der Leiter der Kommission, der Abgeordnete Bülent Akarcali, Mitglied der regierenden Mutter landspartei erklärte, der Hungerstreik und die Forderungen der Familienangehörigen zeigten die Bedeutung des Kommissionsberichtes. „Ich hatte schon damals den Justizminister gebeten, unsere Vorschläge umzusetzen.“ Justizminister Oltan Sungurlu zeigt sich indessen von den Hungerstreiks und dem Bekanntwerden des Kommissionsberichtes unbeeindruckt: „Hungerstreiks sind doch ganz aus der Mode“, erklärte er gegenüber der Presse. Und gebe man den Gefangenen zu viel zu essen, würden sie fett werden. „Die können die ganze Energie nicht verbrauchen.“

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