Premiere für Vobo–Freispruch

■ Berliner Amtsgericht spricht Flugblattverteiler frei / Boykott–Darstellung sei keine Aufforderung zur Ordnungswidrigkeit / Gegen–Urteil zur jüngsten Detmolder Entscheidung in fast der gleichen Sache

Aus Berlin Vera Gaserow

Wenige Tage nachdem ein Amtsgericht in Detmold erstmals in der Bundesrepublik ein Bußgeld wegen des Aufrufs zum Volkszählungsboykott verhängt hatte (siehe taz von gestern), sprach gestern eine Berliner Amtsrichterin einen Volkszählungsgegner in fast genau der gleichen Sache frei. 500 Mark Bußgeld sollte der 39jährige Student Rainer H. ursprünglich zahlen, weil er zusammen mit anderen im März ein Flugblatt verteilt hatte, in dem es - fast wortgleich zu dem beanstandeten Detmolder Flugblatt - hieß: „Boykott heißt, die unausgefüllten Bögen ohne Nummer und Namen bei den Volkszählungsinitiativen abzugeben.“ Im Gegensatz zu ihrer Detmolder Kollegin sah die Richterin Angerstein in Berlin darin keine Aufforderung „zu einer mit einer Geldbuße bewährten Handlung“. Das Flugblatt enthalte zwar das Wort „Boykott“ und informiere auch über desen Möglichkeiten. Es sage aber nicht, was der betroffene Leser zu tun habe, sondern sei eher eine Meinungsäußerung. Das Flugblatt trage insgesamt einen informativen Charakter, und der beschuldigte Rainer H. habe damit auf eine Sache aufmerksam machen wollen, die er als Mißstand empfände. Rainer H. und sein Verteidiger Christian Ströbele, der als ehemaliger Bundestagsabgeordneter selbst wegen eines Vobo–Aufrufs ein saftiges Bußgeld zahlen soll, hatten eine gute Stunde lang dem Gericht ein langes Register von Argumenten dargelegt, warum die Zählung ihrer Meinung nach verfassungswidrig ist und es daher sogar Bürgerpflicht gewesen sei, sich dagegen zu wehren. Rainer H., so begründete Rechtsanwalt Ströbele, habe außerdem gar nicht wissen können, ob ein Boykott der Volkszählung überhaupt eine Ordnungswidrigkeit sei, denn der Gesetzgeber habe in dieser Frage ein „undurchschaubares Wirrwarr geschaffen“. Auf den Volkszählungsmantelbögen nämlich steht als Rechtsgrundlage das Bundestatistikgesetz von 1980. Das wiederum weist gegenüber seiner neuen Fassung von Januar dieses Jahres keine Bußgeldvorschriften für das Nicht–Ausfüllen des Fragebogens auf. Selbst der Bundesdatenschutzbeauftragte Baumann habe deshalb im Frühjahr beim Innenminister anfragen müssen, ob denn nun das Nicht–Ausfüllen eine Ordnungswidrigkeit sei oder nicht. Und wenn es der Bundesdatenschutzbeauftragte schon nicht weiß, wie hätten dann Rainer H. und andere Betroffene wissen sollen, woran sie sind? Dem Staatsanwalt Benkendorf war das zu viel an Argumenten. Da müsse er sich erst sachkundig machen, erklärte er, sichtlich unberührt von jeglicher Kenntnis der Volkszählungsproblematik, und beantragte die Aussetzung des Verfahrens. Nachdem er sich in einer 20minütigen Verhandlungspause von einem Vertreter des Statistischen Landesamtes mit Argumenten hatte „spicken“ lassen, beantragte er ein Bußgeld von 300 Mark gegen Rainer H. Der Freispruch, den Richterin Angerstein dann unter dem Beifall der Zuhörer/innen verkündete, wird für künftige Entscheidungen, die demnächst massenweise bei den Gerichten anstehen, große Bedeutung haben. Aus „grundsätzlichen Erwägungen“ kündigten Statistisches Landesamt und Staatsanwaltschaft denn auch umgehend Rechtsbeschwerde vor dem Kammergericht an.