„Das Moment Strahlen–Angst quantifizieren“

■ Umweltministerium läßt psychische Situation von Schwangeren nach Tschernobyl untersuchen, um Behauptungen über Strahlenschäden wissenschaftlich begründet entgegentreten zu können / Befragung von Ärzten und Schwangeren / Keine Auskunft über Fragebogen

Von Helga Lukoschat

Berlin (taz)– „Als Folge des Reaktorunglücks in Tschernobyl ist zu erwarten, daß versucht wird zu belegen, Beeinträchtigungen der Schwangerschaft seien durch die zusätzliche Strahlenexposition aufgetreten...“ Diesen möglichen Behauptungen „wissenschaftlich begründet begegnen zu können“ ist, wie aus einem Begleitschreiben des Prädidenten des Bundesgesundheitsamtes (BGA), Großklaus, hervorgeht, Ziel der Studie, die das „Institut für Strahlenhygiene“ des BGA durchführt. Die Untersuchung soll darüber Aufschluß geben, inwieweit Angst und deren Folgen als „Wirkgrößen für eine Beeinträchtigung der Schwangerschaft“ anzusehen sind: „Wirkgrößen könnten die Angst der Schwangeren und als mögliche Folge davon eine Erhöhung des Nikotin–, Alkohol–, und Medika mentenabusus sowie Schlafstörungen und Depressionen sein“, heißt es in dem Schreiben von Prof. Dieter Großklaus, das zusammen mit einem Teil der Erhebungsunterlagen der taz vorliegt. Die im August begonnene repräsentative Untersuchung, über die die Öffentlichkeit bislang nicht informiert wurde, basiert auf zwei Erhebungsbögen, die an im Zufallsverfahren ausgewählte Arztpraxen verschickt werden. Zum einen sollen Ärzte und Ärztinnen anhand ihrer Patientenkartei zehn abgeschlossene Schwangerschaften (einschließlich der Fehl–, Totgeburten und Abbrüche) des Jahres 1986 dokumentieren. Der Konzeptionstermin (Zeitpunkt der Empfängnis) muß dabei zwischen dem 1. April und dem 1. August 1986 liegen. Zum anderen erhalten zehn Frauen der jeweiligen Praxis, die sich jetzt in der 15. bis 28. Schwangerschaftswoche befinden, einen mehrseitigen Fra genbogen zum Selbstausfüllen, der sich als sogenanntes „Biogramm“ auf ihre Lebensgewohnheiten bezieht. Der federführende Projektleiter, Prof. Kaul vom Institut für Strahlenhygiene, weigerte sich entschieden, diesen Fragebogen der taz zur Verfügung zu stellen. Die Antworten der Frauen wären nicht mehr unvoreingenommen, so seine Begründung, wenn die Fragen, womög lich aus dem Zusammenhang gerissen, im voraus in der Presse veröffentlicht würden. Bei dem in „monatelanger Arbeit“ entstandenen Fragebogen ginge es schließlich um das schwierige Problem, „das Moment Angst zu quantifizieren“. Untersuchungen, die sich mit den direkten Auswirkungen der radioaktiven Strahlung nach Tschernobyl auf Schwangerschaft und Gesundheit des Kindes beschäftigen, lehnte der für seinen atomfreundlichen Kurs bekannte Strahlenmediziner als „nicht vernünftig“ ab. Denn aufgrund der geringen Strahlendosis, so Kaul gegenüber der taz, „können keine zähl– oder meßbaren Ergebnisse erwartet werden“. Mit den zähl– und meßbaren Ergebnissen der jetzigen Studie ist frühestens in einem Jahr zu rechnen.