Streit–Kultur

■ Zum Grundsatzpapier von SED und SPD

Es kommt nicht ganz überraschend. Und doch ist es eine erstaunliche Leistung, daß es deutschen Kommunisten und Sozialdemokraten nach sieben Jahrzehnten bitteren Streits gelungen ist, sich auf ein gemeinsames Papier über die Auseinandersetzung zwischen den beiden Gesellschaftssystemen zu einigen. Vertreter von SED und SPD haben sich bereits seit 1984 in regelmäßigen Abständen zu insgesamt vier Diskussionen über ideologische Grundsatzfragen getroffen. Daß der Frieden Priorität hat, darüber gab es keinen wesentlichen Dissens, doch daß um der Friedensbewahrung willen der innere status quo der anderen Seite schweigend - sprich unkritisch - hingenommen werden muß, wie das die SED gerne gesehen hätte, darauf konnte man sich nicht verständigen. Thomas Meyer von der Friedrich–Ebert–Stiftung hatte beim letzten Treffen die Entwicklung einer „Kultur des politischen Streits“ gefordert, ein Gedanke, der für die SED–Genossen eher befremdlich, nach „Einmischung“ klang. Der Vorsatz schien nach diesem Treffen dennoch recht optimistisch: „Vielleicht kommt es zu einer Verständigung über einen Minimalkodex über die Kultur des politischen Streits zwischen Ost und West. Dann hätte das Treffen tatsächlich eine historische Dimension.“ Inzwischen existiert dieser „Minimalkodex“. Welche praktischen Konsequenzen er zeitigen wird, bleibt abzuwarten. Aber unzweifelhaft ist vor allem die SED hier ein ganzes Stück weit über ihren politischen Schatten gesprungen. Es soll sich bei diesem Papier zwar nur um die Außenbeziehungen handeln - auch die SPD hat sofort erklärt, an ihrem Verhältnis zur DKP ändere sich durch das Papier gar nichts. Doch wird mancher Satz aus diesem im Neuen Deutschland veröffentlichten Text kritischen DDR–Bürgern als Argumentationshilfe dienen. Zurecht, denn dort steht auch zu lesen: „Die offene Diskussion über den Wettbewerb der Systeme, ihre Erfolge und Mißerfolge, Vorzüge und Nachteile, muß innerhalb jedes Systems möglich sein.“ „Der umfassenden Informiertheit der Bürger in Ost und West kommt im Prozeß der Friedenssicherung und des Systemwettstreits eine wachsende Bedeutung zu.“ Und zum ersten Mal seit langer Zeit wird auch von SED–Seite die Reformbedürftigkeit des eigenen Systems zugegeben: „Gesellschaftssysteme sind nichts Statisches.“ Aber auch für die Beziehungen zwischen den beiden Systemen, nicht nur SPD und SED, sondern auch zwischen SED und Grünen ist folgender Satz beherzigenswert: „Es muß zum Normalfall werden, daß wir miteinander handeln, verhandeln und zusammenarbeiten, während wir gleichzeitig die offene und klare Kritik äußern können, wo nach unserem Verständnis die Friedensbereitschaft, der Wille zur Verständigung, die Menschenrechte und die Demokratie im anderen Bereich verletzt werden.“ Das soll nicht nur für Beziehungen zwischen Parteien gelten: Der „Dialog zwischen allen gesellschaftlichen Organisationen, Institutionen, Kräften und Personen auf beiden Seiten“ sei zu entwickeln. „Das schließt auch Besuch und Gegenbesuch, die Teilnahme an Seminaren, wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Veranstaltungen über die Systemgrenzen hinweg ein.“ Es gibt vieles zu diskutieren, über vieles zu streiten - fangen wir es an und erproben praktisch, wieweit die SED auf eine „Kultur des politischen Streits“ sich einzulassen in der Lage ist. Gelänge dieser Versuch, so wäre das tatsächlich eine historisch eWende in der politischen Kultur auf beiden Seiten der Grenze. Walter Süß