Veltlin - ein Tummelplatz der Inkompetenz

■ Seit Samstag wird im Veltlin–Tal versucht, über kleine Ablauf–Rinnen eine kontrollierte Entleerung des künstlichen Stausees zu ermöglichen / Die Bewohner von Sondrio beobachten die Veränderung des Wasserpegels mit gemischten Gefühlen

Aus Sondrio Werner Raith

„Stell dir vor“, sinniert Ingenieur Angelo Battaglia, „du hast eine schöne große Badewanne randvoll gefüllt - und die mußt du nun mit dem Strohhalm aussaugen. Und damits noch mehr Spaß macht, läuft dauernd aus dem Wasserhahn weiter nach ...“ Die Mitarbeiter der italienischen Zivilschutzkommandos im oberen Veltlin versuchen genau dies - den seit dem 28. Juli nach Erdrutschen entstandenen künstlichen See mit Millionen Kubikmetern Wasser mit Hilfe einiger per Bulldozer angelegter kleiner Rinnen zu senken, während umliegende Bäche und Quellen ständig neues Wasser nachliefern. Wenn das Manöver gelingt und das Wetter nicht zusätzliche Wassermassen vom Himmel fallen läßt, dann könnten Mitte September die fünf Kilometer Pipeline fertig sein, die als eine Art Bypass endgültig mehr Wasser abziehen sollen als nachläuft und so innerhalb eines, vielleicht auch zweier Monate den Lago di Valpola drainieren. „Alles kommt darauf an“, sagt der Präsident des federführenden Zivilschutzkommandos, „daß die Erdrutsche vor vier Wochen wirklich sozusagen ganze Arbeit geleistet haben, also einigermaßen dicht sind und bei der Ableitung nicht unterirdische Rinnen entste hen, die dann den Damm aus Bäumen, Geröll und Schlamm brechen und als Kilometer breite Lawine zu Tal sausen läßt.“ Erst jetzt hat Zivilschutzminister Gasparie „ernsthaft“ die von einigen Geologen schon vorher empfohlene „kontrollierte Entleerung“ des Sees in Erwägung gezogen. Was bis dahin ablief, war nach Ansicht des lombardischen Grünen Sergio Andreis „geradezu ein Jahrmarkt an Inkompetenzen, widersprüchlichen Entscheidun gen und verfehlten Beruhigungsversuchen, wo es nichts zu beruhigen gab“. Andreis, dessen Gruppe in der Regionalversammlung unzählige Male auf die Gefahren im Veltlin hingewiesen hatte, hat schon vor Monaten den damaligen Zivilschutzminister Zamberletti wegen fahrlässiger Tötung angezeigt und fordert auch dessen Nachfolger schon längst wieder zum Rücktritt auf. Der denkt natürlich nicht daran und trägt weiter fröhlich zur Kon fusion bei. Die Einwohner der gefährdeten Ortschaften hatte er, ohne wirklich vor Ort zu gehen, ständig beruhigt, sie könnten bleiben - dann aber in nächtlichen Alarmen evakuiert, gleichzeitig für die nächsten Tage ihre Rückkehr angekündigt, die aber nach allen Voraussagen allenfalls in vielen Jahren möglich sein wird. Pläne zur dauerhaften Unterbringung der Flüchtlinge hat er offenbar überhaupt nicht. „Der tut so“, entsetzt sich Alberto Di Gianni, der mit einer Gruppe von Arbeitern vor einigen Wochen den Pipeline–Bau begonnen hat, „als müßten die nach der Entleerung des Sees nur wieder in ihre Häuser zurückkehren.“ Tatsächlich „wird da unten kein Stein auf dem anderen geblieben sein, die meisten Häuser sind nicht nur vom See, sondern mit festgebackenem Schlick bedeckt. Nichts geht da mehr, gar nichts.“ Inzwischen sehen die Menschen in Sondrio, der Provinzhauptstadt, an deren Grenze das evakuierte Gebiet beginnt, mit eher gemischten Gefühlen, wie sich die seit dem Erdrutsch zum dünnen Rinnsal verminderte Adda wieder füllt; ängstlich beobachten sie die minütlich wechselnden Wasserstände. Gegen Mitternacht großes Geschrei - das Wasser fließt kaum mehr. Mutmaßungen, daß sich ein neuer Stau gebildet hat, daß plötzlich alles zu Tal kommt; die Menschen kommen mit den Koffern, unaufgefordert, zu den Sammelplätzen. Erst am Morgen wird klar, daß oben, am Damm, mit unterschiedlichen Abflußdichten experimentiert wird, informiert hat darüber niemand. Noch sind mehr als zwei Wochen vonnöten, bis die Pipeline genügend Wasser abführen kann, um auch Regenfälle und kleine Erdrutsche in den See abzufangen. Die Menschen werden wohl Monate auf ihren Koffern sitzen.