Genscher knabbert an Kohls Kompetenz

■ Gerangel in Bonn um die Richtlinienkompetenz des Kanzlers / Kohl sagt, er hätte sie / Genscher sagt, er habe in Sachen Pershing 1A Kohl das Wort geführt

Von Klaus Hartung

Berlin (taz) - Kanzler Kohl hat es schwer. Nach seiner Pershing– Erklärung hat er jetzt an zwei Fronten zu kämpfen: Am Mittwoch abend mußte er zum Bußgang nach München aufbrechen - und am Tag darauf mußte er die Öffentlichkeit davon überzeugen, daß es auch wirklich seine Erklärung war, für die er sich vor Strauß zu rechtfertigen hatte. Nicht Genscher hätte ihm das vorgesagt. Der Kanzler nimmt die Zweifel an seinem Umgang mit der Richtlinienkompetenz sehr ernst. Im ZDF versicherte er, der Verzicht auf die Pershing–1A–Raketen „war eine Entscheidung von mir“. Und trotzig setzte er hinzu, wer vom Kanzler „immer wieder“ die Richtlinienentscheidungen fordere, „muß damit rechnen, daß Entscheidungen getroffen werden“. Eine düstere Drohung für die Zukunft: Stark gereizt wird mithin nach den eigenen Worten der Kanzler auch das tun, was er darf - entscheiden. Die Bußfahrt in die Wohnung von Strauß am Mittwoch spricht eher für die ausgeübte Richtlinienkompetenz. Denn das Gespräch hat hauptsächlich das ergeben, was vorher feststand: Zur Koalition gebe „es keine Alternative“. Neu ist allerdings eine Bereicherung der Kommuniquesprache: Beide Gesprächspartner hätten eine „sehr deutliche Sprache“ geführt. Das läßt der lebhaften Vorstellung viel Raum. Während also Kohl sich in München für seine Entscheidung gerechtfertigt hat, bestritt gestern Außenminister Genscher unmittelbar nach diesem Treffen nun offen deren Urheberschaft. Er bestätigte Informationen, daß er auf einer FDP–Fraktionssitzung betont habe, der Verzicht auf die Raketen sei keine Richtlinienentscheidung gewesen. Er sei vielmehr mit der FDP abgestimmt gewesen. Außerdem habe er selbst dem Kanzler schon vor der Sommerpause zu dieser Lösung geraten und ihn in dieser Sache zweimal in seinem Ferienhaus am Wolfgangsee angerufen. Aus der Umgebung von Kohl wurde daraufhin betont, seine Pershing–Erklärung sei nicht mit Genscher abgestimmt worden. Daraufhin erfolgte, kurz vor Redaktionsschluß, das letzte Wort zur Frage der Entscheidungsfreudigkeit. Genscher dementierte: Nein, niemals habe er behauptet, der Kanzler habe die Erklärung vom 26. August mit ihm „abgestimmt“. Nur eins steht ganz sicher fest: Gestern hat sich der Kanzler von afrikanischen Studenten die „Würde eines Ehrenhäuptlings“ verleihen lassen, inclusive eines „Rungu–Stabs“. Häuptlinge stehen immerhin im Ruf, Spezialisten des Aussitzens zu sein.