Ein blutiges Schauspiel des Fanatismus

■ Jedes Jahr begehen die Schiiten mit einem blutigen Ritual die Niederlage des Enkels von Mohammed in einer Schlacht bei Kerbala / Mit dem Auftauchen des Amal–Chefs Berri bekommt das fanatische Fest eine politische Dimension

Aus Westbeirut Petra Groll

Westbeirut, 4. September 1987. Das Ashoura–Fest am zehnten Tage des Monats Moharam im islamischen Kalender hat den Ruf der Kleinstadt Nabatiyeh längst über die Landesgrenzen getragen. Ashoura in Nabatiyeh signalisiert Fanatismus und ein sensationelles Schauspiel, in dessen Verlauf sich erwachsene Männer in gläubigem Entzücken bis zur blutigen Extase verlieren. Seit Donnerstag, dem 10. Moharam oder 3. September steht Ashoura aber auch für religiöse Dekadenz und den drohenden Eklat einer politischen Konfrontation. Ashoura ist aktuell, obwohl sein Ursprung ins Jahr 630 zurückgeht, als der dritte Imam, Hussein, Sohn des Ali und Enkelsohn des Mohammed, zusammen mit 71 Anhängern im Kampf bei Kerbala im heutigen Irak geschlagen wurde. Die Kriegslist war unfein, selbst Kindern wurden der Überlieferung zufolge von den Truppen des Yazidenkhalifen massakriert. Heute noch züchtigen sich die schiitischen Moslems aus historischer Reue über unterlassene Hilfeleistung selbst. Um die 200.000 Menschen sind am Donnerstag in Nabatiyeh zusammengekommen. Mehr als weitere 250.000 in den südlichen Vororten Beiruts und in der Kleinstadt Baalbek. Während in Baalbek die Veranstalter in diesem Jahr Reis mit Hühnchen Lkw– weise unters Volk bringen, bilan ziert in Nabatiyeh das libanesische Rote Kreuz: Knapp 900 Verletzte sind zu verarzten, Ohnmachtsanfälle, Kopf– und Schnittverletzungen. Wie knallorangene Geier kreisen Sanitäter um jeweils einen der Demonstrantenblöcke. Dazwischen das Geschrei der Akteure, das Stakkato der Gebetsparolen, die ständig über die Lautsprecheranlage schluchzende Erzählung eines Sheiks. Die Schlacht von Kerbala entsteht noch einmal aus der Erzählung auf der riesigen Bühne. Da ist das Blut eines mit Messern und Schwertern geführten Krieges, da ist der Schlachtlärm und der Staub. Eine Stirnwunde blutet im ausrasierten Winkel über der Stirn, Schläge auf die immer gleiche Stelle lassen das Blut laufen und die Haut platzen. Schauerlich ist der Anblick etlicher Kleinkinder, die von Verwandten begleitet, das Spektakel mitmachen. Und wenn der Kleine einmal vergißt, sich die blutige Stirn noch blutiger zu schlagen, dann helfen die liebe Mama oder der liebe Papa gern nach. Zum ersten Mal bemerken in diesem Jahr die Zuschauer auch eine Handvoll Frauen, die teils gar barhäuptig an der Zeremonie teilnehmen. Die Prozession findet ihren Höhepunkt, wenn auf der Bühne Hussein den Märtyrertod stirbt. Das ist der Moment unerträglichen Schmerzes, der die Männer noch einmal zu wilden Schlägen gegen Kopf und Oberkörper führt - doch in diesem Jahr stiehlt Nabih Berri, der Chef der Schiitenbewegung Amal dem Märtyrer Hussein die Show. „Berri, Berri, mit unserem Blut und unserer Seele werden wir Euch verteidigen“, skandieren die Männer. Berri tourt seit Anfang der Woche zum ersten Mal seit sechs Jahren durch den Südlibanon, wo die Mehrzahl seiner Parteigänger lebt. Auch Berri hat sich einen Fetzen weißen Stoffes um den Hals binden lassen, doch an der Zeremonie will er sich nicht beteiligen. Berri heizt ein, wenn wieder eine Gruppe besonders blutiger Gesellen auf der Straße unter ihm auftaucht. Er beugt sich über die Brüstung, streckt die Fasut gen Himmel und schreit „Allah Akhbar - Allah Akhbar“. Wo er auftaucht sind die Anhänger seiner Partei gleich zu Hunderttausenden mobilisiert worden. Berri nutzt die Sensation der eigenen Erscheinung und greift seine politischen Rivalen an, die Hizbollah. Das diesjährige Ashoura–Fest wird überall im Libanon von den beiden Parteien getrennt zelebriert. 5.000 Hizbollahis ist von den religiösen Führern das Vergießen jeden Blutstropfens verboten worden. Die in Schwarz gewandeten Männer tragen nur bunte Fähnchen mit weißen Schriftzügen: Ya Hussein oder Allah Akhbar, und Portraits von Ayatollah Khomeini. Immer näher kommen sie den Fans des Amal–Chefs Berri. Schüsse peitschen über die Köpfe der Menge, die sofort in Panik ausbricht und vom Platz zu fliehen versucht. „Ich habe gehört, wie die Hizbollah strengstes Verbot zu schießen über ihre Funkgeräte aussprach“, berichtet ein Augenzeuge, „glücklicherweise, sonst hätten die Schiiten heute um einige tausend neuer Märtyrer zu trauern.“