Ein (un)rechtkräftiges Urteil

■ Zehn Jahre „Deutscher Herbst“, zehn Jahre Rebmann, Lebenslänglich für Boock

Das längste RAF–Verfahren ist zuende, Peter Jürgen Boock ist rechtskräftig verurteilt. Einen zweiten Revisionsantrag von Boocks Rechtsanwälten hielt der Bundesgerichtshof für „offensichtlich unbegründet“. Es bleibt beim Lebenslänglich, mehr war nicht drin. Der Karlsruher Bundesanwaltschaft ist Genugtuung widerfahren; ihren eigenen Revisionsantrag, als Faustpfand sozusagen, hat der Generalbundesanwalt zurückgezogen. „Damit ist der Rechtsweg für uns zu Ende“, sagte Boocks Rechtsanwalt werden? Gerectigkeit, die Boock im Heimatland von Stammheim nicht widerfuhr - vielleicht schafft sie der europäische Gerichtshof.

Wo anfangen bei diesem längsten und wohl auch abgründigsten aller Dramen in Stammheim bei Deutschland, am Ende des langen Felds. Viereinhalb Jahre stritten sich Juristen und Moralisten, Sozialwissenschaftler, Psychiater, Psychologen, Theologen, Schriftsteller und Politiker um Schuld und Schuldfähigkeit des Peter Jürgen Boock. Der Politiker und Pfarrer Heinrich Albertz auf der einen, der greise Euthanasieprofessor Hans Joachim Rauch auf der anderen Seite. Boock sollte im Knast älter werden als Hitlerstellvertreter Rudolf Hess, viermal Lebenslänglich hatten die Vertreter der Bundesanwaltschaft schon in der ersten Verhandlung gefordert und dabei blieb es. Daß davon nur ein Leben übrigblieb, verdankt Peter Jürgen Boock einer tiefen Einsicht des Karlsruher Bundesgerichtshofs: wo nur eins ist, ist auch nur eins zu holen. Das aber sollte auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Zu deutlich hatten sich, gerade in den zwei Prozessen gegen Peter Jürgen Boock, Unwillig– und Unfähigkeit, bis hin zu Vernichtungswillen, bei Politikern, Bundesanwälten und Richtern offenbart, als daß man dem „RAF– Aussteiger“ Peter Jürgen Boock Gnade und Recht hätte zugestehen können. Was GSG 9 oder Beamte des BKA blutig begonnen hatten, in Stammheim sollte es „unblutig“ fortgesetzt werden. Die radikalsten und vielleicht auch grausamsten politischen Gegner dieser Republik sollten vernichtet werden, mit allem, was neue und alte Gesetze hergaben, mit all der sauberen Perfektion der alten und neuen Knäste. Peter Jürgen Boock ist ein Jahr nach dem „Deutschen Herbst“, ein Jahr nach der Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto, ein Jahr nach dem versuchten Raketenanschlag auf die Karlsruher Bundesanwaltschaft, ein Jahr nach der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und seiner Bewacher, ein Jahr nach dem mysteriösen Tod von Andreas Baader, Gudrun Enßlin und Jan–Carl Raspe, ein Jahr nach Mogadischu aus der RAF ausgestiegen. Er hatte seine Bezugsgruppe RAF moralisch, politisch und physisch nicht mehr ertragen. Er hatte den Glauben an deren „Revolution“ oder gar Gesellschaftsveränderung längst und gründlich verloren. Er war krank und Drogenabhängig, wollte nicht mehr Jäger, aber auch nicht mehr Gejagter sein, sondern setzte sich ab für ein bißchen mehr Leben. Kurz genug. Im Januar 1981 hatten ihn seine Häscher eingeholt. Ohne Widerstand und Waffe ließ er sich festnehmen, in der Hoffnung auf einen fairen Prozeß. Doch es nutzte Peter Jürgen Boock nichts, daß er all seine Waffen gründlich gestreckt hatte, Bundesanwaltschaft und BKA wollten mehr, Boock sollte zum Verräter an seinen früheren politischen Freunden werden. Und weil er hartnäckig schwieg, die Verräter und Kronzeugenkarriere seiner ehemaligen Genossen Speitel und Dellwo beharrlich in den Wind schlug, weil er seine politische und moralische Identität nicht für ein paar Pfifferlinge an seine einstigen Gegner und Verfolger verschachern wollte, weil er sich der zynischen Räson - es gebe nur hie oder da, nur die RAF oder „die freiheitlichste Republik, die wir je hatten“ - entzog, mußte er zum „Schwein“, zum Verräter gemacht werden. Ein paar Wochen nach Boocks Festnahme verlautbarte die Bundesanwaltschaft, der Vogel habe gesungen. Auch seinen ehemaligen Genossen und deren Freunden paßte das ins Konzept: „Widerstand bis zum Tod oder Schwein und Verräter“. Ein Weltbild, das alles, was zwischen „imperialistischem Staat“ und seinen Vertretern aus Politik und Wirtschaft, zwischen deutscher Justiz, dem BKA, der Bundesanwaltschaft und auf der anderen Seite eben der RAF, dem „Widerstand“ und der „kämpfenden Bewegung“ liegt, als unpoli tisch und unbewußt weitgehend ausschloß, war wieder in Ordnung und traf sich verheerend mit dem des politischen Gegners. Beim Status quo scheint es geblieben zu sein. Hört man den „Jägern“ aus dem Bundeskriminalamt oder Bundesanwälten aufmerksam zu, so entgeht einem nicht eine Art militärischer Anerkennung des „Gegners“. Man hat sich also getroffen, ganz so wie mittelalterliche Ritter im Duell - der Rest des Volkes bleibt außen vor. Politik ist reduziert auf die Frage der besseren Logistik oder eben wer schneller zieht. Und Peter Jürgen Boock hat sich zwischen all diese Fronten begeben und doch neue Freunde gefunden, weit mehr denn je. Daß die keine Macht haben, vielleicht gar keine wollen, darunter wird er mehr als andere leiden und das muß er jetzt wohl ertragen. Was die Endgültigkeit des lebenslänglichen Urteils gegen Peter Jürgen Boock betrifft, so ist es wohl zehn Jahre nach dem „Deutschen Herbst“ eine erneute Kampfansage aus Politik und Justiz für die Zukunft. Wer damit spekuliert, aus der RAF, aus dem bewaffneten Widerstand auszustei Fairneß ist Geschichte geworden. Dietrich Willier