Zonen wilder Gefühle und Gefahren

■ Eine Inszenierung der atomaren und industriellen Zerstörung in einer Sandgrube in Lüchow–Dannenberg

In der Vollmondnacht vom vergangenen Samstag auf Sonntag entführte die Lüchow–Dannenberger Künstlergruppe, die vor zwei Jahren die höchst ungewöhnliche Kunstaktion „Hart an der Grenze“ inszeniert hatte, 155 Leute zu einer neuen Reise ins Unbekannte: Erinnerungen an Gorleben, Tschernobyl, Zerstörung durch Industrialisierung.

Wir müssen unglaublich komisch und bescheuert ausgeschaut haben: Mitten in der tiefsten Nacht laufen und schieben sich 155 erwachsene Menschen rückwärts den abschüssigen Hang einer riesigen Sandgrube hinunter, jeder mit einem Totem um den Hals, mit einem Strohsack um die Schulter und einem Spieß mit einer rohen Wurst in der Hand, die weder als Laterne leuchten will noch gebraten werden kann. Aber unsere Führer haben es so befohlen. In Lüchow haben sie uns in drei Reisebusse gesteckt, haben uns in Deutsch, Spanisch und Englisch eingebleut, ihren Anweisungen zu folgen, haben noch ein letztes Butterbrot gereicht (“mittels vorgewärmter Hände zum Munde führen, bestimmendes Kauen fördert das Verdauen“) und uns in die Wüste geschickt. Genauer genommen war es eine Bar in der Sandwüste, in der die Bardamen mit vollen Colabüchsen und Obszönitäten um sich schmissen und skurrile Sprühmännchen auf den schwarzen Wänden tanzten. Doch plötzlich hat sich die Wand aufgetan, und die Führer, in olivgrünen Kampfanzügen und Tarnnetzen über Haar und Gesicht, beschwerten uns mit den Strohsäcken als Marschgepäck und trieben uns zur Eile an, wild mit ihren Leuchtstäben fuchtelnd: „Da müssen wir durch.“ Der gefährliche Anstieg in den Grund der Grube begann - hinter uns magnesiumhelle, scharfe Explosionen und vor uns die gähnende Nacht. Nebelschwaden und düstere Klangfetzen schwappten um die bleichen Gerippe der Fördergerüste und Förderbänder. Diese erste, die industrielle Zone, war von einer melancholischen Einsamkeit, in einer plötzlich aus dem sandigen Nichts auftauchenden Telefonzelle schrillte ununterbrochen das Telefon und niemand nahm ab, aber sie war nicht so gefährlich wie die zweite. Ist sie eine verbotene Zone, so wie die um Tschernobyl oder um das scharf abgesicherte Gorlebener Atommüllager? Haben wir sie unbefugt betreten? Jetzt, nach unserem Abstieg bis in die tiefste Tiefe der Grube, stehen wir zusammengepfercht wie Schafe. Die wollen uns in ein Lager bringen, uns beseitigen, die „Beseitiger“, die uns umzingelt haben und ihre scharfen Stimmen und Raketen über unsere Köpfe jagen. Sind wir schon so verseucht? Oder sind wir bereits mitten im Hades? Während Charon, der Fährmann in die Totenwelt, einen Kahn den Abhang hinaufzubringen versucht und zieht und zieht und rutscht und rutscht, ertönt plötzlich ein Knall, und Eurydike kullert den Hang hinab. Pluto im Kahn erwartet sie schon mit einem riesigen Phallus. Doch irgendwann haben die Höllenhunde ein Erbarmen und lassen uns weiterziehen. Vorbei an einem Heinzelmann, der im Leuchtfeuer seiner Fackeln nach einem verschütteten Schatz gräbt. „Wo bist du, wo bist du, mein Schatz? Grab ich hier richtig, nur das ist wichtig, bin ich hier endlich am richtigen Platz?“ Seit Jahrhunderten gräbt er hier in monotonem Singsang und will die gefundene Warnung nicht begreifen: „Do not dig here“... Wir aber stehen schon vor dem Karussell der Wünsche. Bunte Puppen, nein, Vogelscheuchen, nein, mystische Figuren drehen sich langsam im Kreis, begleitet von den Gedanken scheinbar zufällig interviewter Passanten: „Das Leben - wo sind die Abenteuer, die wilden Gefühle? Es erschöpft sich im Umgang mit zwei Maschinen. Und die Katze hat wieder in den Papierkorb gepinkelt.“ Wir werden weitergetrieben, wir treiben weiter im Sand. Trommeln und Singsang in einer Kuhle: Drei Figuren, die Erde im leuchtendblauen Reifrock, der silbrig glitzernde Mond und die gelbe Sonne mit armlangen, golden strahlenden Fingernägeln, drehen sich umeinander; mal im Schatten, mal im Hellen. Diesmal, im Licht der Scheinwerfer, werden die Sandhügel zu geradezu erotischen Zonen. Die Musik verstummt, und der Berg glüht auf: Feuerbahnen schießen in die Tiefe, bis das Benzin im Sand versickert und die Flammen blau werden. So blau, wie ein anderer riesiger phosphoreszierender Mond in einer nächsten Kuhle, die von nackten, kreischenden, frechen, kieswerfenden Erdhexen bewacht wird. Wer sind wir hier? Fremde in einer von Maschinen zerfressenen Landschaft, von fremden Mächten angetrieben. Manchmal, wie in der flatternden, mal weiß und mal lila aufleuchtenden Fata Morgana eines Gerüstes aus Stoffbahnen versöhnen sich Natur und Industrie zu neuen Reizen, aber wir spüren auch, wie heftig und mit welchen zerstörerischen Folgen sie aufeinanderprallen. Kunst wird zur Landschaft und Landschaft zur Kunst, und der Mond leuchtet apokalyptisch oder romantisch auf, man weiß es nicht so genau. Hat die Sintflut schon stattgefunden? Ist das riesige Schiff, das drüben auf einer Sandwelle gestrandet ist, ein großartiger Anblick im vollen Mondlicht, etwa die Arche Noah? Nein, es ist die „M.S. Seeligkeit“, vormals „Titanic“, gerade im Abtreiben auf dem Sandmeer begriffen. Die Matrosen an Bord brüllen und beschimpfen sich gegenseitig, „total falsch“ geflaggt zu haben. Und die Sintflut hat doch schon stattgefunden. Wir Archäologen von morgen finden den Friedhof der Bergarbeiter oder Atommüllgräber: Harken und Schaufeln hinter flackernden Kerzen sehen wie gekreuzigt aus. Und wir entdecken die seltsamsten Apparaturen: ein Abfalltonnensystem, diesmal nicht für Papier und Alt glas, sondern für Fleisch und Blut, Haare und Knochen. „Wiederauferstehen durch Recycling“ - aha, das also haben sie damals probiert. Derweil ist der Morgen heraufgezogen. Der verzweifelte Orpheus kriegt seine tote Eurydike nicht mehr geweckt, und wenn der hundertmal das Rezeptzettelchen studiert, die Titanic geht schon wieder unter, und der Heinzelmann hat beim Graben bereits zwei Beine und eine Hand verloren - ist er auf Atommüll gestoßen? Hellere Wolken schieben den Grusel hinweg. Der Weg durch die unbekannten Zonen schlängelt sich durch einen Stangenwald und endet im Stilbruch: an einem großen Indianerfeuer, dem die um den Hals der Reisenden baumelnden Totems geopfert werden. In einem Zelt steht ein freundliches und üppiges Frühstück bereit, das meine Begeisterung für dieses außergewöhnliche Spektakel kulinarisch abrundet. Ute Scheub