Seit der Amnestie ist Solidarnosc in der Krise

■ Selbst Lech Walesas Position ist angeschlagen, seitdem er trotz der Gründung eines neuen Führungsgremiums im Herbst 1986 „keinen politischen Erfolg vorweisen kann“

Von Klaus Bachmann

„Solidarnosc steht heute vor einem bedrohlichen Problem - der Gefahr des Verlusts der organisatorischen und ideologischen Identität.“ Was Barbara Labuda, Breslauer Solidarnosc–Aktivistin vor einem dreiviertel Jahr schrieb, ist inzwischen Wirklichkeit geworden. Die verbotene, im Untergrund weiterhin aktive Gewerkschaft „Solidarität“ hat einen beträchtlichen Teil ihres vormaligen Einflusses auf die Gesellschaft verloren. Der Grund ist nicht zuletzt auf interne Streitigkeiten und Auseinandersetzungen um die richtige Politik zurückzuführen. Barbara Labuda veröffentlichte ihren Kassandraruf nur wenige Wochen nach der großen Amnestie für die politischen Gefangenen am 11. September 1986. Und heute, ein Jahr danach, fragen sich viele politisch interessierte Polen, ob die Amnestie nicht ein Danaergeschenk war. Denn nach ihrer Frei lassung taten die führenden Köpfe der Opposition vor allem eins! Sie begannen, sich zu streiten. Anlaß war zunächst die Gründung des sogenannten „Solidarnosc–Rats“ - ein Gremium, desssen Kompetenzen zwar nach wie vor unklar sind, das aber eine offene Arbeit der verbotenen Gewerkschaft ermöglichen sollte. Bis dahin hatte die Gewerkschaft mit Hilfe des „Vorläufigen Koordinierungskomitees“, das gleich nach Verhängung des Kriegsrechts gegründet worden war, ohne Namen und nur im Untergrund gearbeitet. Mit der Gründung des „Rats“ gelang es Walesa und den beteiligten „Räten“ zwar, die Regierung kurzzeitig zu überraschen; noch überraschter waren allerdings zahlreiche Mitglieder und Unterorganisationen der Gewerkschaft. Sie betrachteten den Rat nicht nur als eine unnötige Provokation der Regierung, sondern zum Teil auch als „Putschversuch linksradikaler Fraktionisten“ und den Versuch, „die Gewerkschaft und Walesa für das KOR und die Warschauer Linke zu vereinnahmen“. Tatsächlich entstammen die Mitglieder des Rats dem Umfeld des ehemaligen „Komitees zur gesellschaftlichen Selbstverteidigung“ (im polnischen KOR abgekürzt) und der sogenannten „Warschauer Linken“, zu der auch Jacek Kuron und Adam Michnik gerechnet werden. So ging Lech Walesa, der bis dahin als „überparteiliche Schiedsrichterfigur“ die Einheit der Bewegung zu bewahren suchte, aus der Auseinandersetzung nicht ungeschoren hervor. Seit er sich - so sagen seine Kritiker - den „Rat“ von der Warschauer „Linken“ aufschwatzen ließ, hat sein Image bei anderen Gewerkschaften schwer gelitten. Aber nicht nur deshalb hat Walesa aufgehört, für Solidarnosc–Leute wie Andrzej Gwiazda, eine heilige Kuh zu sein. Der ehemalige stellvertretende Vorsitzende der Solidarnosc–Landeskoordinierungskomission heute: „Die Hauptlinie von Walesa ist von Anfang an die Linie der Verständigung gewesen, die Vermeidung von Auseinandersetzungen. Soweit ich sehe, ist diese Linie bis heute erfolglos, bis heute wollen sich die Kommunisten mit niemandem, auch nicht mit Walesa, verständigen.“ Schon 1982 spaltete sich Kornel Morawicki mit seiner Anhängerschaft von der Gewerkschaft ab. Morawicki ist einer der wenigen, die sich seit Einführung des Kriegsrechts erfolgreich vor der Polizei verstecken. Für die „Kämpfende Solidarität“ wie sich seine vor allem in der Gegend um Wroclaw und Kattowice aktive Gruppierung nennt, ist die Führung um Walesa und seine Berater zu kompromißlerisch. Andrzej Lisowski, Sprecher der „Kämpfenden Solidarität“: „Wir glauben an keinerlei Übereinkommen und Kompromiß mit der Regierung.“ Es ist kein Zufall, daß die Radikalen um Morawicki gerade in Schlesien besonders aktiv sind und nach den Streitereien um den „Solidarnosc–Rat“ weiteren Zulauf erhielten. Niederschlesien war 1981 die mitgliederstärkste Gewerkschaftsregion und hat unter dem Kriegsrecht am meisten gelitten. Als im Dezember 1981 Sondereinheiten der Polizei die Grube „Wujec“ stürmten, fanden sieben Bergleute den Tod. Radikale Töne, wie von Andrzej Rozplochowski, einem ehemaligen Mitglied der Landeskommission, sind dort keine Seltenheit: „Die Reparatur des Kommunismus interessiert mich nicht“, erklärt er. „Ich beabsichtige den Umsturz der totalitären Diktatur.“ Deshalb stand er auch bereits vor Gericht. Sein Credo beschrieb er Journalisten auf seiner jüngsten USA– Reise so: „Es gibt keine Freiheit für zwei Groschen und zwei Tropfen Blut“, zitierte er Pilsudski. Heftige Debatten gibt es auch um die Frage, welche innere Struktur die Solidarnosc im Untergrund haben soll. Eine zentralistische, sagen beispielsweise die Vertreter Niederschlesiens, sei für machtvolle Aktionen und die Einheit der Bewegung unabdingbar. Die Vertreter Masowiens, allen voran der ehemalige Leiter der Untergrund–Organisationen Bujak, halten dem entgegen, daß dezentrale Strukturen schwerer überwacht und zerschlagen werden können und auch der Realität besser Rechnung tragen. Tatsächlich hat sich nämlich sechs Jahre nach dem Kriegsrecht in Polen eine regelrechte Untergrundgesellschaft entwickelt, mit illegal vervielfältigten Zeitschriften, Büchern, Videofilmkopien und Tonbändern, Vorträgen in Kirchen und Diskussionsabenden für Eingeweihte. Viele Intellektuelle und Künstler boykottieren die offiziellen Medien und veröffentlichen nur im Untergrund oder in katholischen Publikationen. Doch das kann kein Weg für alle sein, zumal nicht alle eine Zuflucht in der katholischen Kirche finden oder wollen. Ein Jahr nach der Amnestie ist die Gesellschaft erschöpft, die Regierung ratlos und die Opposition mit sich selbst beschäftigt.