Honeckers freie Rede sorgte für eine Überraschung

■ Die Äußerung von Honecker in Neunkirchen zur deutsch–deutschen Grenze war die erste Abweichung vom Konzept / Saarland erhofft sich von dem Besuch die Rettung einer Kohlegrube

Von Felix Kurz

Saarbrücken/Neunkirchen (taz) - „Spätestens jetzt muß er doch mal was Neues sagen“. Die Ungeduld unter den Journalisten wächst. Ob Honni endlich mal etwas rausrutscht? Urplötzlich weicht der Generalsekretär bei seinem Empfang in Neunkirchen von seinem Konzept ab. Angesichts der Tatsache, daß in der Mitte Europas zwei unterschiedliche Machtblöcke aufeinanderträfen, legt er los, sei es nur allzu verständlich „daß die Grenzen nicht so sind, wie sie sein sollten“. Wenn sich die beiden deutschen Staaten weiter verständigten, wenn sie im Sinne des gemeinsamen Kommuniques weiterarbeiteten, dann „wird der Tag kommen, wo uns die Grenzen nicht mehr trennen, sondern uns vereinen, so wie uns die Grenze zwischen Polen und der DDR vereint“, sagt Honecker überraschend und mit lauter, fester Stimme. Zum ersten Mal klingt der Mann nicht steif. Unter den Journalisten entstehen sofort hektische Aktivitäten. Viele rennen zum Telefon. Oskar Lafontaine hat Erich Honecker, den bedeutendsten aktuellen Saarländer am Donnerstag nachmittag zum zweiten Mal bei dessen „Arbeitsbesuch“ in der BRD empfangen. Es sei schon eine „List der Geschichte“, sagt der saarländische Ministerpräsident, daß ein saarländischer Dachdeckermeister der erste Mann in Preußen ist. Artig bedankt sich Lafontaine auch „im Namen der Bergleute“ beim DDR–Staatsratsvorsitzenden für ein Geschäft, das möglicherweise die von der Schließung bedrohte Grube Kamphausen rettet. 600.000 Tonnen Steinkohle jährlich will die DDR den Saarländern abnehmen. Honeckers Replik auf Lafontaines Begrüßung fällt stereotyp aus. Frieden und die Existenz zweier „unabhängiger, souveräner deutscher Staaten“ sind die Schlüsselworte. Beim Treffen von saarländischem Kabinett und den DDR– Politikern ist die Presse ausgeschlossen. Von Teilnehmern ist zu erfahren, daß sich Honni Chancen ausrechnet, daß bis zum Jahre 2000 alle Atomwaffen beseitigt sind. Und Gorbatschow habe er dabei sogar namentlich erwähnt. Mit mittelständischen und kleineren Betrieben will die DDR verstärkt ins Geschäft kommen. Fast gespentisch wirkt die kurze Stippvisite in der evangelischen Ludwigskirche, erinnert eher an eine Szene aus einem Mafia–Streifen. Die Bodyguards stehen breitbeinig an allen Ecken verteilt ohne jegliche Miene in dem „Hause Gottes“ herum. Seit an Seit bei Orgelmusik schreiten Erich und Oskar, flankiert von zwei Pfaffen, in den barocken Prunkbau. „Wenn Honni jetzt auf die Knie ginge und betete, das wäre doch was“, frotzeln die wenigen zugelassenen Journalisten. Respekt und Augenzwingern bewirkt dann ein Coup der Organisatoren. Nicht erst in Wiebelskirchen besucht Honecker seine Schwester Gertrud. Nein, sie sitzt plötzlich in der vorfahrenden Staatskarosse in Saarbrücken. Zurück zu dem Ort, an dem die vielleicht wichtigste Äußerung des ganzen Besuchs fiel. Auch in Neunkirchen werden an diesem Tag ganze Straßenzüge abgesperrt. Damit Honecker freie Durchfahrt hat. Und in Neunkirchen kommt es bei seiner Ankunft am Bürgerhaus zu zahlreichen Mörder– und Buh–Rufen. Auf einem Transparent steht: „Eine deutsche Arbeiterkarriere: Vom Dachdecker zum Maurer“. Die Schalmeienkapelle Wiebelskirchen spielt den „kleinen Trompeter“, das Lieblingslied ihres Ehrenmitglieds Erich. Werner Zins, der Kapellmeister, ist gerührt, den Tränen nah, als er „dem Erich“ die „goldene Ehrennadel“ verleiht. Schon in dieser Szene gelingt Honecker das erste Mal ein Lächeln, eines das nicht gezwungen erscheint. Doch auch hier kommt von dem Menschen und Saarländer Erich Honecker nichts rüber. Die nächsten 50 Minuten sind reserviert für ein „Gespräch“ mit ausgewählten 450 Bürgern. Zum Abschied spielt die Schalmeienkapelle wieder. Diesmal ist es das Arbeiterlied „Die rote Fahne“.