Frankreichs unendlicher Kolonialtraum

■ Befreiungsbewegung boykottiert „Scheinreferendum“ in Neukaledonien / Von Ulrich Delius

Das Ergebnis der Volksabstimmung über Frankreichs Kolonie im Pazifik steht schon fest: Frankreich will seine Herrschaft über Neukaledonien legitimieren. Die Kanaken haben deshalb zum Boykott des Referendums aufgerufen. Der Sprecher der Befreiungsbewegung der Kanaken in Paris, Jimmy Ounei, kündigt gewaltfreien Widerstand an, um das Kolonialsystem zu destabilisieren. Neukaledonien ist der viertgrößte Nickelproduzent der Welt. Paris hat die Sicherheitskräfte verstärkt.

Bereits im Vorfeld der Abstimmung wurden Polizei und Militär verstärkt sowie sämtliche Demonstrationen verboten. Versammlungen wurden mit Schlagstöcken auseinandergetrieben. Mehrere Kanaken sitzen in Haft. Nachdem sich die Regierung der Inselkolonie geweigert hatte, die Ureinwohner an den Verhandlungen über die Modalitäten des Referendums zu beteiligen, hat die nationale und sozialistische Befreiungsfront der Kanaken FLNKS zum Boykott der Abstimmung aufgerufen (siehe Interview). Mit Spannung wird deshalb die Anzahl der Enthaltungen erwartet, die darüber Aufschluß gibt, wieviele Ureinwohner sich dem Boykottaufruf angeschlossen haben. Die Kanaken hatten ursprünglich gefordert, daß nur diejenigen Bürger abstimmungsberechtigt sein sollten, die in Ka naky, so der einheimische Name der Inselgruppe, geboren sind. Stattdessen werden nun alle Bürger, die sich seit mindestens drei Jahren auf den Inseln aufhalten, abstimmen dürfen. Das betrifft besonders zehntausende europäische Neusiedler, die während des Nickelbooms in den siebziger Jahren in die Kolonie einwanderten. Für einen Verbleib unter der Herrschaft Frankreichs setzt sich vor allem die rechtsgerichtete patriotische Vereinigung der Caldoches, „Rassemblement caledonienne pour la Republique“ RPCR ein. Ihr Präsident Jaques Lefleur, Mitglied des französischen Parlaments, argumentierte neulich auf einer Kundgebung in Noumea: „Würde Neukaledonien unabhängig, würde es sofort auf den Rang der ärmsten Länder der Dritten Welt abrutschen.“ Da Europäer und Polynesier zusammengenom men die Bevölkerungsmehrheit in Neukaledonien bilden und sich mehrheitlich für einen Verbleib der Inseln unter Frankreichs Kolonialregime geäußert haben, ist also der Ausgang des Referendums unschwer vorauszusagen. Die Kolonie Neukaledonien, die Frankreich 1853 in Besitz genommen hatte, erhielt 1946 beschränkte Selbstverwaltungsrechte. Gleichzeitig erlangten die Kanaken die französische Staatsbürgerschaft. Seit 1957 haben sie Stimmrecht, seit 1960 erst stehen ihnen die Gymnasien in Noumea offen. Seither drängt eine besser gebildete und politisch motivierte Generation nach vorne. Die erste Kanakenpartei entstand 1970, die Forderung nach Unabhängigkeit wurde erstmals im Wahlkampf 1979 formuliert. Im September 1981 wurde der Generalsekretär der „Union Caledonienne“, Pierre Declercq, ermordet. Das war der Anfang einer Radikalisierung der melanesischen Parteien, die sich später in der „Kanakischen Sozialistischen Befreiungsfront“ FLNKS vereinten. Schon bei den Wahlen zur Territorialversammlung am 18. November 1984 rief die FLNKS zum Boykott auf. Sie wählte stattdessen eine provisorische Regierung, rief eine Woche später den „Unabhängigen Sozialistischen Staat Kanaky“ aus und arbeitete eine provisorische Verfassung aus. Diese verbietet die Diskriminierung einer Bevölkerungsgruppe und fordert eine Verstaatlichung der Produktionsmittel. Im Dezember 1984 wurden zehn aktive FLNKS–Mitglieder in einen Hinterhalt gelockt und erschossen, darunter auch zwei Brüder des FLNKS–Präsidenten Tjibaou. Mit einem „Marsch für die Unabhängigkeit“ wollten die Kanaken in diesem Sommer 1987 der Weltöffentlichkeit demonstrieren, daß die französische Regierung nicht einfach den Willen der größten Bevölkerungsgruppe ignorieren kann. Mindestens 10.000 Kanaken sollten Ende August in einem zweiwöchigen Sternmarsch in die Hauptstadt Noumea ziehen, um die Proteste der Urbevölkerung deutlich zu machen. Die gaullistische Partei RPCR kündigte daraufhin einen Gegenmarsch der Europäer an. Damit lieferte sie der Regierung den Vorwand, alle Demonstrationen im Vorfeld der Volksabstimmung zu verbieten. Paris verstärkte die Sicherheitskräfte auf den Inseln im Pazifik, die nun auf eine Stärke von 8.000 Mann angewachsen sind. Der Präsident der FLNKS, Jean–Marie Tjibaou, ein ehemaliger Pfarrer und Archäologe, zeigt sich wenig erstaunt über die jüngste Eskalation: „Seit Beginn der Kolonialzeit ist der Gefängnisaufenthalt ein Teil des Schicksals unseres Volkes.“ Trotz schärfster Sicherheitsmaßnahmen versammelten sich in Noumea mehrere hundert Kanaken mit Luftballons auf den Staßen. Obwohl keine Parolen zu hören waren und keine Spruchbänder auf eine politische Absicht der Versammlung hindeuteten, trieben Polizisten die Demonstranten auseinander. Zwanzig Menschen wurden dabei verletzt. Präsident Mitterrand zeigte sich schockiert von der Gewalt und sah seine Ablehnung des Referendums zum jetzigen Zeitpunkt bestätigt. Besorgte Nachbarn Auch die pazifischen Anrainerstaaten, unter ihnen auch Japan, haben sich über die Situation in Neukaledonien besorgt gezeigt. Australien und Neuseeland haben gegen das Referendum protestiert. Frankreichs Premierminister Chirac warf diesen beiden Ländern daraufhin „schockierende Heuchelei“ vor und spielte damit auf die Lage der Aborigines und der Maori, der Ureinwohner der Länder, an. Solche wenig diplomatischen Äußerungen verbessern allerdings nicht gerade die ohnehin wegen der französischen Atombombenversuche belasteten Beziehungen Frankreichs zu den Anrainerstaaten des Pazifischen Ozeans. Die melanesischen Staaten Vanuatu, Papua–Neuguinea, Fidschi und die Salomon–Inseln erwägen jetzt den Vorschlag, mit der FLNKS eine Pan–Melanesische Union mit eigener Verfassung, einem Kongreß und einem Schiedsgericht einzugehen. Die Europäer in Neukaledonien sind durch die neue gewaltfreie Taktik der FLNKS verunsichert. Aktuelle Beispiele: Ohne daß die Bereitschaftspolizisten es rechtzeitig bemerkten, formierten sich in der Innenstadt Noumeas plötzlich hunderte Kanaken zu einem Demonstrationszug, der schweigend und ohne Transparente die Straßen auf– und abging. An einem von Weißen bevorzugten Strand badeten eines Tages hunderte Kanaken, worauf die Polizei das Gelände absperren mußte - sehr zum Ärger der Europäer. Wie es nach dem Referendum weitergehen soll, weiß niemand. Die konservative Regierung in Paris hat offenbar das Ende des Kolonialzeitalters verschlafen.