NATO übt Angriffskrieg in Labrador

■ Der Luftwaffenstützpunkt Goose Bay im kanadischen Nordosten soll zu einem riesigen Flugausbildungszentrum ausgebaut werden / Bundesdeutsche Luftwaffe schon jetzt Hauptbenutzer / Opfer des Lärmexports sind die Ureinwohner Labradors / Die kanadische Regierung versucht, türkische Konkurrenten auszustechen

Von Barbara Körner

In Kanada sorgt ein abgelegener Ort für zunehmenden Konfliktstoff innerhalb der NATO–Partner, aber auch zwischen Regierung und Friedensbewegung: Der Luftwaffenstützpunkt Goose Bay in Labrador soll zu einem riesigen Ausbildungszentrum der NATO für taktische Jagdfliegerwaffen (NTFWTC) ausgebaut werden. Von Spätwinter bis Herbst donnern schon jetzt Jagdbomber der europäischen NATO–Staaten täglich im Tiefstflug über die angeblich menschenleeren Weiten des nordöstlichen Kanadas. Da Proteste in der Enge der BRD eine weitere Steigerung der militärischen Flugübungen erschweren, machen sich die bundesdeutschen Rowdys der Lüfte, seit 1980 Hauptnutzer Goose Bays, im fernen Labrador immer lautstarker bemerkbar. Die kanadische Regierung setzt ihrerseits auf einen Wirtschaftsboom für die Provinz Neufundland, den der militärische Ausbau Goose Bays bringen soll. Zuerst gilt es jedoch, einen Konkurrenten um den Milliarden–Auftrag für das NTFWTC auszustechen: Auf der Herbsttagung der NATO–Verteidigungsminister im Dezember letzten Jahres empfahl ein Sonderkomitee aufgrund einer Kostenvergleichsstudie den Stützpunkt Konya in der Türkei für den Bau des NTFWTC. Auf Drängen des kanadischen Verteidigungsministers Beatty wurde dann die Entscheidung über den Standort des Tieffliegerzentrums nun schon zum zweiten Mal vertagt und damit den Kanadiern Zeit gegeben, die NATO–Partner mit Videos und Broschüren zugunsten Goose Bays umzustimmen. Unterdesen hat die kanadische Regierung begonnen, unter dem Vorwand eines Aufbauprogramms für die Region Goose Bay 93 Millionen Dollar in die Modernisierung der Flughafenanlage bis 1995 zu investieren. Damit sich der Aufwand auf jeden Fall lohne, wird laufend auf bilateraler Basis mit den europäischen Bündnispartnern verhandelt, um eine möglichst ausgiebige Nutzung der riesigen Tiefstfluggebiete Labradors zu erreichen. Die Bundesregierung z.B. zahlt pro Jahr mindestens 25 Millionen DM an die kanadische Regierung. Tiefflugopfer Innu–Indianer In der BRD, dem Land mit der höchsten Tiefflugdichte, sorgen allein die bundesdeutschen Jagdflieger mit ca. 45.000 Jahresflugstunden für aktute Ruhestörung - dazu kommen noch die Übungen der Alliierten. In unserer dicht besiedelten „Kulturlandschaft“ ist der Tiefflug jedoch „nur“ bis 150 m, der Tiefstflug in sieben dazu vorgesehenen Gebieten bis 75 m über Grund erlaubt. In Labrador dagegen gibt es weder Atomreaktoren noch einsturzbereite Barockkirchen, dort wird so uneingeschränkt tief geflogen, daß Baumspitzen gestreift, auf Gewässern Wellen erzeugt und giftige Abgasschmiere hinterlassen werden. Doch auch dort sind natürlich Menschen betroffen: Die vor der Zivilisation in die Wälder zurückgewichenen Innu–Ersteinwohner Labradors sind die Opfer des Lärm– und Schmutzexports. Unberührt von Protestreisen der Innu in die BRD nennt die Bundesregierung die inzwischen circa 4.000, bis 1990 auf 6.000 zu steigernden Jahresflugstunden der Bundesluftwaffe in Labrador eine „Verlagerung“ der notwendigen Tiefstflugmanöver ins Ausland, mit der das Verteidigungsministerium einen „positiven Umweltschutzbeitrag für die Bürger der Bundesrepublik“ leiste. Ganz abgesehen vom Zynismus des Arguments handelt es sich bei den Übungen auch keinesfalls um reine Verlegungen: Zusätzlich und neu sind auf jeden Fall die Tornados in Goose Bay, die seit zwei Jahren vom Verteidigungsministerium verstärkt angeschafft werden. Was in Labrador geübt wird, das „tiefe Eindringen“ in feindliches Territorium unter Radarhöhe durch Anpassung an das Gelände nach dem Prinzip der Cruise Missile, dazu Abfangmanöver und Bombenabwurf, gehört zu dem Teil der US Air–Land–Battle Dok trin, der im November 1984 zum gültigen NATO–Konzept erklärt wurde. Die Strategen des „Angriffs in die Tiefe“ (Deep Strike) glauben, einen bregrenzten Atomkrieg mit schnellen Luftkriegsoperationen möglichst weit auf gegnerischem Gebiet gewinnen zu können. In diesem Planspiel kommt den bundesdeutschen Tornados eine zentrale Rolle zu, weil sie zusätzlich zur Mehrzweckwaffe MW1 und zur Anti– Radar–Waffe HARM mit einer nuklear bestückten Rakete mittlerer Reichweite ausgerüstet werden können. Schon jetzt bedeutet der Tiefflugexport der Bundesrepublik einen Angriffskrieg: Phantoms, Alpha–Jets und Tornados brechen auf brutale Weise in die von Europäern romantisierte „heile Natur“ Labradors ein - Fische sterben in verschmutzten Gewässern, Migration und Bestand der letzten großen Karibuherden sind durch den Lärmterror nachhaltig be droht. Die vom Kommandanten in Goose Bay erfaßten Jagdstationen der Innu werden als militärische Gefahrenzonen gekennzeichnet und als solche angeblich „sorgfältig gemieden“; Augenzeugen berichten dagegen, daß Zeltlager der Innu wiederholt bewußt angeflogen wurden. Karibujagd ist unter diesen Bedingungen in den Tieffluggebieten natürlich kaum mehr möglich. Seit Neufundlands Beitritt zur kanadischen Konföderation 1949 wurden die Innu und die weiter nördlich lebenden Inuit (“Eskimos“) zwangsweise seßhaft und schulpflichtig gemacht und so zunehmend abhängig von Sozialhilfe, während die Bodenschätze ihres Landes von multinationalen Konzernen „erschlossen“ wurden. Da die 9.000 Jahre alte Existenzgrundlage der Innu, die Karibujagd, durch nichts ersetzt wurde, gleichen die staatlich eingerichteten Innu–Siedlungen vielen nordamerikanischen Indianerreservaten: Arbeitslosigkeit und Alkoholismus ließen die Selbstmordrate fünf mal über den kanadischen Durchschnitt steigen, die der Jugendichen liegt sogar 17 mal höher. Das Zurückgehen in die Wälder Labradors, das die Innu „Ntesinan“ (Unser Land) nennen, war der Versuch, der Verelendung zu entgehen und ein Stück nationaler Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Einen Landabtretungsvertrag haben die Innu nie unterzeichnet - Kanada verpachtet Ntesinans Luftraum wortwörtlich über ihre Köpfe hinweg an seine NATO–Partner, und zwar mit dem ausdrücklichen Hinweis auf den Vorteil, daß das Land praktisch „unbesiedelt“ ist. Das geplante NTFWTC in Goose Bay würde die Testkapazität des bisher größten Luftwaffenstützpunkts Nordamerikas, Nellis Air Base in Nevada, weit übersteigen. Auf etwa 100.000 Quadratkilometern Labradors würden 140 Jagdbomber mit mindestens 200 Einsätzen pro Tag zusätzlich zum „normalen“ Tieffluglärm unzählige Überschalldetonationen erzeugen. „NATO raus aus Labrador“ Nach Ansicht der am militärischen Ausbau des Gebietes interessierten, staatlich subventionierten Geschäftslobby des Ortes Happy Valley–Goose Bay sollen die Innu der wirtschaftlichen Entwicklung jedoch „nicht im Wege stehen“. Die implizierte Forderung nach (Selbst–) Vernichtung eines Volkes wird von Kanadas Verteidigungsminister Perrin Beatty mit dem Argument unterstützt, die Regierung habe „immer das Recht auf Enteignung“ sowie das Recht, „etwas für das Gemeinwohl zu unternehmen“. Die geplante Völkerrechtsklage der Innu und Inuit vor der UNO und die Forderung der Grünen nach Schadensersatzzahlungen der Bundesregierung an die Innu wirken hoffnungslos. Auch in der kanadischen Friedensbewegung außerhalb der Ostprovinzen horchte man erst auf, als sich der Plan vom NTFWTC herumsprach. Ihr Slogan lautet: „NATO raus aus Labrador, Kanada raus aus der NATO!“ Buchtip: Tiefflug/Olaf Achilles (Hrsg.). In Zusammenarbeit mit der Arbeits– und Forschungsstelle „Militär, Ökologie und Planung“, Lamuv Verlag 1987