„Ungarns KP soll wie die Queen sein“

■ Die Debatte um das Wirtschaftsprogramm der ungarischen Regierung löst eine heftige Diskussion über die Zukunft des Landes aus

Aus Budapest Erich Rathfelder

„Unsere Zeitung ist für Ungarn so etwas wie die Financial Times für England“, führt der Chefredakteur der ungarischen Tageszeitung Vila–ggazdasa–g - Weltwirtschaft, Janos Vajna, ins Gespräch ein. „Sie ist nur nicht rosa, sondern grün. Wirtschaftsprobleme stehen bei uns im Vordergrund. Dabei sind wir aber kein Sprachrohr der Regierung, eher eine Zeitung für die Regierung“ fügt der schlanke, grauhaarige Herr mit einem Augenzwinkern hinzu. Schon von oppositioneller Seite war uns bedeutet worden, daß auch die Wochenzeitung des Verlags, die Heti Vila–ggazdasa–g - Weltwirtschaftswoche, zu einer der interessantesten Zeitschriften des Landes gehöre. „Sie werden sehen, daß hier in diesem Haus viele Meinungen vertreten sind.“ Zunächst einmal sind sich die Herren aber einig. Der Wirtschaftskrise sei nicht mehr nur mit kosmetischen Korrekturen beizukommen. „In den letzten 15 Jahren werden die Probleme auf die lange Bank geschoben. Nun haben sie sich zu einem Berg aufgetürmt.“ Als 1972 die Wirtschaftsreform von 1968 gestoppt und verwässert wurde, (der Druck gegen die Reform von seiten der Bruderländer bleibt jedoch unerwähnt), versuchte die Führung den Lebensstandard zu halten. Und das ging am einfachsten mit der Aufnahme von Krediten aus dem Westen, die damals billig zu haben waren. Wohlstand auf Pump, Konsum zur Beruhigung der Masse, Ungarn hat über seine Verhältnisse gelebt. Jetzt gibt es ein böses Erwachen. Die Preise steigen, durch die Steuerreform (siehe Kasten) verschlechtert sich die Situation für Kinderreiche, Rentner, Lehrer und andere Staatsbedienstete noch mehr. Die Furcht vor Arbeitslosigkeit geht um, weil manche Betriebe schließen müssen. Als Ende der siebziger Jahre der Staat schon einmal fast bankrott dastand, gelang es Parteichef Janos Kadar noch einmal das Staatsschiff flott zu machen, indem er mehr Privatbetriebe zuließ. Die jetzige Situation ist anders. „Heute stehen wir mit einer Nettoauslandsverschuldung von voraussichtlich über elf Milliarden Dollar für dieses Jahr vor horrenden Problemen. Der Schuldendienst ist schon bei 65 heiße es Konsequenzen ziehen. Doch über das Wie scheiden sich die Geister. Die marktwirtschaftliche Richtung Die Apologeten der Marktwirtschaft, zu der auch hochgestellte Parteikader zählen, wollen auch in Ungarn den Markt zum bestimmenden Element des Wirtschaftslebens machen. Die Preise sollen sich nach Angebot und Nachfrage bilden, Subventionen für einzelne Betriebe oder ganze Produktgruppen sind zu beseitigen. Der Bankrott unproduktiver Betriebe wird einkalkuliert. Bitter beklagen die Vertreter dieser Richtung, daß der Staat bis heute die Stahlindustrie künstlich am Leben hält, obwohl sie wegen der Überproduktion von Stahl auf dem Weltmarkt keine Chance hat. Ihr Ziel ist es, die rentablen Betriebe zu stärken, den Export (in den Westen) zu erhöhen und Mittel für Investitionen in Zukunftstindustrien freizuschaufeln. Soziale Härten wie Arbeitslosigkeit und Armut für einzelne Bevölkerungsgruppen sind „für eine Übergangszeit“ hinzunehmen. Für ein soziales Netz fehlen leider die Mittel. Dagegen Marton Buza, Chef des „Theoretischen Forschungsinstituts des Zentralrats der Ungarischen Gewerkschaften“: „Wir sind alle für die Fortentwicklung der Wirtschaftsreform, aber Arbeitslosigkeit wird es bei uns nicht geben.“ Sogar in den Krisenregionen wie in Ozd bei Miskolc, wo das größte ungarische Stahlwerk liegt und Tausende von Arbeitern entlassen werden müssen, würde die Arbeitslosigkeit nur eine vorübergehende Erscheinung sein. Für die Entlassenen würde gesorgt, liest der schwerfällige, etwa sechzigjährige Mann aus seinem vorbereiteten Statement vor. „Wir werden andere Industrien in die Region bringen oder entlassene Arbeiter in Budapest beschäftigen.“ Und mit dem Hinweis, die Gewerkschaften seien in der Regierung und in der Parteispitze vertreten, deutet er auf das austarierte Machtgleichgewicht im Staat von Janos Kadar. Daß sich in seinem riesigen Arbeitszimmer über dem schweren Eichenschreibtisch ein Leninbild befindet, weist ihn als überzeugten Kommunisten der ersten Stunde aus, der sich als Repräsentant der sozialistischen Macht und nicht als bloßer Interessenvertreter begreift. Zwischentöne „Es gibt bei uns eine ganze Palette von Meinungen, die zwischen den Extremen angesiedelt sind. In unserer Zeitung wollen viele soziale Verantwortung mit mehr Marktwirtschaft verbinden“, erklärt ei ner der Redakteure der Weltwirtschaft. Es werde viel Hoffnung in Zukunftsinvestitionen gelegt, um die Probleme zu lösen. Doch auch hier zeige sich ein erschreckendes Bild. Die Computerindustrie z.B. sei trotz Erfolgen in einzelnen Bereichen - die sowjetische Raumfahrt ist teilweise auf ungarische Computer angewiesen - fünf bis zehn Jahre hinter dem Weltstandard zurück. Bisher würden die anfallenden Gewinne für die Subventionen defizitärer Betriebe aufgewendet. Die Ausfuhrbeschränkungen im Westen (COCOM– Verdikt) tue ein Übriges, um diese Zukunftsindustrie in ihrer Entwicklung zu behindern. „Das ganze Spektakel um die Preiserhöhungen, die Steuerreform, den Subventionsabbau deckt doch nur zu, daß es um die Schuldenkrise geht“, analysiert ein hochgestellter Beamter die Situation. „Es sollen Mittel freigemacht werden, um die Verschuldung nicht weiter ansteigen zu lassen. An Investitionen in zukunftsträchtige Industrien sei bei der herrschenden Finanzlage gar nicht zu denken.“ Ähnlich argumentieren Oppositionelle, die in der heutigen Wirtschaftspolitik des Staates nur einen Trick sehen. „Die Machthaber versuchen doch nur die verfehlte Wirtschaftspolitik der Vergangenheit auf die Rücken der Ärmsten abzuwälzen.“ So negativ zugespitzt möchte ZK–Mitglied Istvan Huszar die Lage doch nicht sehen. Die jetzige Debatte um die Steuerreform zeige, daß sich die ungarische Gesellschaft zu einer pluralen gewandelt habe. Institutionen wie das Parlament würden aus der Auseinandersetzung gestärkt hervorgehen. Es gebe zwar Widerstände gegen den Kurs der weiteren Öffnung, vor allem aus den Gewerkschaften, den Ministerien und den Führungskadern der Großbetriebe, auf die Dauer müßten aber die Gewerkschaften in ein neues Rollenverständnis hineinwachsen und zur Lobby ihrer Mitglieder werden. Andere Parteien als die kommunistische werde es aber nicht geben. „Unter bestimmten historischen Umständen könnte dies wohl in anderen sozialistischen Modellen möglich sein, nicht aber in Ungarn.“ Die Pluralität der Gesellschaft werde sich auf andere Weise entwickeln. Für den Wirtschaftsredakteur einer großen ungarischen Zeitung könnte auch die Partei ihr Rollenverständnis ändern und sich aus der Wirtschaft und Gesellschaft raushalten. Sie sollte eine Art Schiedsrichterrolle übernehmen, „so wie die Queen in England“.