Joschka Fischer eint die Bonner Grünen

■ Der Vorstand der Bundestagsfraktion reagierte in seltener Einigkeit auf die Äußerung Fischers, der sofortige Ausstieg aus der Atomenergie sei „irreal“

Von O.Tolmein/Ch.Wiedemann

Bonn (taz) - Nach all den Querelen der letzten Tage hat die Spitze der grünen Bundestagsfraktion gestern zu seltener Einheit zurückgefunden: durch einen Hieb aus Hessen. Überraschend scharf und vor allem einstimmig distanzierte sich der Fraktionsvorstand der Grünen im Bundestag gestern nach einer Sondersitzung von Joschka Fischer: „Die Forderung nach dem sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie ist für uns unverzichtbarerer Bestandteil grüner Grundpositionen“, heißt es in der nach einstündiger Beratung verfaßten Erklärung. Joschka Fischer hatte in einem gestern veröffentlichten Interview behaup tet, die Forderung nach sofortigem Ausstieg sei „irreal“. Der Umbau der Energiewirtschaft sei nur mittel– und langfristig zu bewältigen. Dem hält der Fraktionsvorstand jetzt entgegen: „Die Möglichkeit des sofortigen Ausstiegs ist durch die Grünen nachgewiesen. Die Weiterentwicklung energiepolitischer Alternativen ist eine vorrangige Aufgabe grüner Politik. Dabei über den besten Weg zu streiten, ist lohnend. Dazu war Joschka Fischers Äußerung kein hilfreicher Beitrag.“ Auch der energiepolitische Sprecher der Fraktion, Wolfgang Daniels, wandte sich gegen Joschka Fischers Kurswechsel. Die hessische grüne Bundestagsabgeordnete Gertrud Schilling, die zum realpolitischen Flügel gehört, forderte Fischer gar zum Parteiaustritt auf. Als „Kampfansage an das grüne Projekt insgesamt“, und nicht nur an eine Strömung, bezeichnete der Sprecher des Bundesvorstands der Grünen, Christian Schmidt, Joschka Fischers Äußerung. „Das Muster der Zerstörung politischer Identität“, heißt es in seiner Erklärung, „ist immer gleich. Als falsch beziehungsweise überholt soll gelten, was heute nicht durchsetzbar ist“. Das sei eine politische Anpassung an den Gegner. Schmidt konstatierte eine Differenz mit Fischer nicht nur im Weg, sondern im Ziel. Durch Strategien, wie sie in Fischers Interview deutlich würden, werde das Profil der Grünen ausgelöscht. Fortsetzung und Dokumentation auf Seite 2 Tagesthema Seite 3 Interview Seite 5 Unterstützung erfuhr Fischer, was seine Ausstiegsäußerung angeht, dagegen vom bayerischen Landesverband der Grünen, der Fischers Einschätzung, daß die Partei „alle ihre Positionen überdenken (muß)“, als falsch bezeichnete. Es wird allgemein erwartet, daß diese unerwartet entflammte Auseinandersetzung dem am Wochenende stattfindenden Parteitag, der sich hauptsächlich mit der zu gründenden Stiftung beschäftigen soll, ihren Stempel aufdrücken wird. Der aktuelle Streit droht nun auch das Thema Friedenspolitik vom Parteitag am Wochenende vollends zu verdrängen. Bisher steht die Abrüstung neben dem Hauptpunkt „Stiftung“ noch auf der Tagesordnung. Um in den Schlingerkurs der letzten Monate angesichts der Genfer Verhandlungen wieder ein Profil grüner Politik zu bringen, hat die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) „Frieden“ der Partei einen Grundsatzantrag vorgelegt: Er begrüßt zwar ein mögliches Abkommen in Genf, aber verweist auf den militärischen Ausgleich durch laufende Umrüstungsmaßnahmen der NATO. Die Grünen, so das BAG–Papier, sollen an ihrer NATO–Austrittsforderung festhalten, von der Bundesregierung einseitige konventionelle Abrüstung verlangen und sich wieder mehr in der Friedensbewegung engagieren. Denn von deren Engagement werde es abhängen, ob die Dynamik zwischen NATO und Warschauer Pakt „für Abrüstung oder für europäische Supermachtambitionen“ genutzt werde. Die Bundestagsfraktion könne, so BAG– Sprecher Wolfgang Weber, nach ihrer Politik der letzten Monate mehrheitlich diesem Antrag kaum zustimmen. Um so peinlicher wäre es seiner Ansicht nach für die ganze Partei, wenn die Differenzen auf diesem strategischen Feld jetzt immer noch nicht ausgetragen werden. Die BAG will vor der Parteiöffentlichkeit in Oldenburg auch die Vorwürfe aus dem realpolitischen Lager geklärt sehen, die die FriedensarbeiterInnen des „Dogmatismus“ und der „ideologischen Verbohrtheit“ beschuldigten. Zur Debatte, wenn die Delegierten in Oldenburg eine wollen, steht dabei auch das Thema „Frauen zum Bund“, sowie eine Resolution zur deutsch–französischen Zusammenarbeit und die kürzlich in den Bundestag eingebrachte Forderung nach einem Atomwaffen– Verzicht im Grundgesetz.