Mythos mit Napalm–Aktien

Er kann nicht singen, er kann nicht Gitarre spielen, er kann nicht Mundharmonika spielen, sagen die einen. Ihr könnt nicht hören, die anderen. Seit er kein traditionell–amerikanisches „Folk“–Material mehr nachsingt, also seit fast 25 Jahren, ist er eine der extrem kontroversen Gestalten der populären Musik. Da das deutsche Rockmusikpublikum weitgehend nicht bereit ist, Texte zu rezipieren, hat Dylan hier nie eine umfassende Würdigung erfahren. In Amerika ist er seit Ende der 60er Jahre eine politische Figur, eine äußerst inkonsequente allerdings. Den „Star“ hat Dylan übersprungen, er ist gleich zum Mythos geworden. Was immer er öffentlich tut: es ist prekär gemischt aus aufrichtigem künstlerischem Bedürfnis und perfider PR–Taktik - er wußte immer, was Wind macht. Seine Interviews sind pure Vernebelung. Den Verweis aufs Werk, in dem „alles gesagt“ sei, hat er immer wieder als sein gutes Recht wahrgenommen. Worüber sind seine Lieder? „I know what my songs are about“, antwortet er endgültig, „some are about 3 Minutes, some about 5, and some are even about 11 minutes“. Vom eklektischen Surrealismus seines „Desolation Row“ über die zynische Romantik der „Sad Eyed Lady of the Lowlands“ bis zur epischen Abgeklärtheit von „Lily, Rosemarie and the Jack of Hearts“ - seine langen Balladen enthalten zusammengenommen die Entfaltung des poetischen, politischen und moralischen Credos, das in allen Liedern, verschieden facettiert, anklingt. Jeder Song ist gleich nah zum Zentrum seines Denkens. Das aber ist verborgen, nur zu ahnen unter den unzähligen Masken dieses raffinierten Spielers. Er ist nicht nur der Tambourine Man, nicht nur Narr und Shakespeare zugleich, nicht nur Bürgerrechtler und Friedensbewegter - er, der Jude mit deutschen Vorfahren, hält es auch für selbstverständlich, Israel zu unterstützen. Er mag auch Napalm–Aktien besitzen oder besessen haben, wie ein Moralingerücht der 70er Jahre wissen wollte. Er ist unverantwortlich und asozial, man kann ihn unmöglich beim Wort nehmen. Er ist unglaubwürdig. Sein Eigensinn macht ihn untauglich zur populären Gestalt; denn er kann nicht, stellvertretend, moralische Lichtgestalt sein, die unsere eigenen Unfähigkeiten wegleuchtet. Er ist nicht besser als irgendeiner von uns oder Euch. Aber er hat die Epoche, die letzten zwanzig Jahre, in denen wir erwachsen zu werden versuchten, auf den Begriff gebracht. Er ist das Genie der Popmusik. Klaus Nothnagel